Oberwil-Lieli: Die Entzauberung des Dorfkönigs

Nr. 12 –

Das Aargauer Dorf Oberwil-Lieli macht seit letztem Herbst immer wieder Schlagzeilen. Der Gemeindeammann und SVP-Politprofi Andreas Glarner dominierte das Dorf jahrelang – bis eine junge Frau ihm die Stirn bot.

  • «Acht Flüchtlinge sollen für die zweitreichste Gemeinde im Kanton ein Problem sein?», fragt Johanna Gündel. Foto: Florian Bachmann
  • Foto: Florian Bachmann
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Johanna Gündel steht vor dem Restaurant Hirschen, das für seine Grillhühnchen bekannt ist, und deutet auf die gegenüberliegende Strassenseite. «Dort bin ich in den Kindergarten gegangen, etwas weiter die Strasse runter, neben dem Volg. Mitte der neunziger Jahre war das.»

Den Kindergarten gibt es nicht mehr. An seiner Stelle klafft nun eine Baugrube im Dorfkern von Lieli. Ein Dorfkern, der aus zwei Bushaltestellen, dem Volg und dem «Hirschen» besteht. Lieli, der höher gelegene Ortsteil der Aargauer Gemeinde Oberwil-Lieli, ist eher eine Einfamilienhaus-Ansammlung als ein Dorf. Der graue Himmel hat sich an diesem nasskalten Tag Mitte März bleiern über die Hecken und Mauern und Garageneinfahrten gelegt.

Hinter der Bushaltestelle, wo die Busse aus dem nur zwanzig Fahrminuten entfernten Zürich im Viertelstundentakt ankommen, liegt ein Stück Wiese. Auch dort stand bis vor kurzem ein Haus. Der Gemeinderat von Oberwil-Lieli hat es von einer Privatperson erworben und abreissen lassen. Um Landreserven für geplante Alterswohnungen zu schaffen, hiess es. Doch das Hauptmotiv war ein anderes: Durch den Abriss konnte die Nutzung des Gebäudes zur Unterbringung von Asylsuchenden verhindert werden. Aus demselben Grund liess der Gemeinderat noch zwei weitere Gebäude abreissen.

Flüchtlinge sind in Oberwil-Lieli nicht willkommen. Das ist die Botschaft. Der Absender dieser Botschaft, der Gemeindeammann Andreas Glarner, diktiert sie in jedes Mikrofon und in jede Kamera, vor die er tritt: «Notfalls würde ich ein Haus auch mit eigenem Geld kaufen, wenn ich damit verhindern kann, dass Asylsuchende einziehen», sagte er dem «Tages-Anzeiger».

Acht Flüchtlinge müsste Oberwil-Lieli momentan aufnehmen. So sieht es der kantonale Verteilschlüssel vor. Doch im Aargau können sich die Gemeinden von der Pflicht, Asylsuchende aufzunehmen, gegen eine Ersatzabgabe freikaufen. Also zahlt der Gemeindeammann von Oberwil-Lieli lieber 290 000 Franken aus der Gemeindekasse und lässt vorsorglich Häuser abreissen.

Johanna Gündel schaut über die grüne Wiese hinter der Bushaltestelle und schüttelt den Kopf: «Acht Flüchtlinge sollen für die zweitreichste Gemeinde im Kanton ein Problem sein?», fragt sie. Gündel erinnert sich noch gut an die Flüchtlingskinder aus Exjugoslawien, mit denen sie gemeinsam den Kindergarten und später die Primarschule besuchte. «Eine albanische Primarschulfreundin brachte mir damals einen Blumenstrauss an meine Geburtstagsfeier mit. Das hat mich sehr gefreut, es war ein ungewöhnliches Geschenk.» Dann erzählt die 25-jährige Studentin von Bekannten im Dorf, die vor langer Zeit eine Autopanne im Ort hatten, worauf ihnen ungarische Flüchtlinge zu Hilfe eilten. «Aus Dankbarkeit haben die Bekannten die Ungarn zum Essen eingeladen. Daraus entstand eine enge Freundschaft.»

Johanna Gündel, deren Familie seit vier Generationen in Oberwil-Lieli lebt und dort eine Gärtnerei betreibt, ist gerne unterwegs. Schon als Teenager verbrachte sie ein Austauschjahr in Kanada, von dem sie mit leuchtenden Augen erzählt. Nach dem Gymnasium begann sie, in Zürich Sprachwissenschaften zu studieren, sie absolvierte zwischendurch ein Austauschsemester in Finnland, heute lebt und studiert Gündel unter der Woche in Basel. Seit dem letzten Herbst aber ist sie wieder häufiger zurück im Dorf, oft auch unter der Woche. Johanna Gündel hatte sich entschieden, dem Gemeindeammann entgegenzutreten und ihre eigene Botschaft zu verkünden: Flüchtlinge sind in Oberwil-Lieli willkommen!

Mit der Ruhe im Dorf ist es seither vorbei.


Andreas Glarner landete eher zufällig in der Gemeinde Oberwil-Lieli. Anfang der neunziger Jahre gründete er, knapp dreissigjährig, eine eigene Firma und suchte für sein expandierendes Lufttechnik-Handelsunternehmen grössere Lagerräume. Auf einer Autofahrt von Birmensdorf ZH auf den Mutschellenpass passierte er am Ortsausgang von Lieli ein Gebäude, vor dem ein «Zu vermieten»-Schild stand.

Politische Ambitionen hegte Glarner damals nicht. «Gas geben mit der Firma» stand im Vordergrund. Doch die anstehende EWR-Abstimmung im Dezember 1992 elektrisierte auch ihn. Glarner sah im möglichen Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum einen «Verlust der Souveränität». Zugleich beeindruckten ihn die Auftritte von Christoph Blocher, den er als sein Vorbild bezeichnet – «politisch und unternehmerisch». Andreas Glarner, in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie im Glarnerland aufgewachsen, trat noch während des Abstimmungskampfs in die SVP ein.

Seine Firma lief gut, bald musste der gelernte Betriebstechniker, der sich dann zum Betriebswirtschafter weiterbildete, neue Räume anmieten. Anlässlich der Abnahme eines Liftbaus im Jahr 1997 traf er den damaligen Bauvorsteher der Gemeinde. Ob Glarner nicht seine Nachfolge antreten wolle, fragte ihn dieser. Glarner winkte ab. Kurz darauf sprach ihn auch der Gewerbeverein auf das Milizamt an. «Ich habe damals den Fehler gemacht, zu sagen, sie sollen sich nochmals melden, wenn sie niemanden finden», sagt Glarner. Wenige Monate später sass er im Gemeinderat. «Als Einzelmaske», betont Glarner, «eine sichtbare SVP-Ortspartei gab es damals nicht.» Also baute er diese in den darauffolgenden Jahren auf und begann sich zunehmend auch auf kantonaler Ebene zu engagieren. 2001 folgte der Sprung ins Aargauer Kantonsparlament.

In Oberwil-Lieli setzte sich Glarner in ein gemachtes Nest. Das Dorf ist schon länger eine äusserst finanzstarke Gemeinde. Die Millionärsdichte ist wohl die höchste im Kanton – wozu auch Andreas Glarner beiträgt, der seit dem Verkauf seines Lufttechnik-Handelsunternehmens an einen Grosshandelskonzern vor einem Jahrzehnt ein reicher Mann ist.

Noch Anfang der sechziger Jahre galt Oberwil-Lieli mit seinen knapp 600 EinwohnerInnen als Armenhaus. Der wirtschaftliche Aufschwung der Gemeinde, die Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine Zwangsfusion entstanden war (bis heute sind die beiden Ortsteile nicht wirklich zu einem Dorf zusammengewachsen), setzte mit der allmählichen Anbindung ans Verkehrsnetz ab den siebziger Jahren ein. Ab diesem Zeitpunkt wandte der Gemeinderat das Baurecht konsequent grosszügig an und förderte so gezielt den Bau von Einfamilienhäusern. Die vielen Baulandreserven an attraktiver Südwesthanglage mit Alpenblick, besonders in Lieli, erwiesen sich dank des zunehmenden Siedlungsdrucks aus dem nahen Zürich sowie aus dem Limmattal als Goldgrube. Mit der Fertigstellung des Autobahnanschlusses an den Üetlibergtunnel wurde diese Entwicklung vor fünf Jahren «gekrönt». Seither ist das Zürcher Stadtzentrum gerade mal eine zwanzigminütige Auto- oder Busfahrt entfernt. Oberwil-Lieli zählt heute 2200 EinwohnerInnen.

Selbst die grössten Feinde von Andreas Glarner – und Feinde gibt es nicht wenige – attestieren ihm, dass er mit Geld umgehen könne. Er ist durch seinen ausgeprägten Geschäftssinn und Ehrgeiz vom Arbeitersohn zum Multimillionär aufgestiegen, und er hat das Businessmodell Oberwil-Lielis perfektioniert – erst als Bauvorsteher, seit 2006 als Gemeindeammann. Die Gemeinde betitelt sich seit geraumer Zeit als «Juwel am Mutschellen».

Doch Oberwil-Lieli und das Parlament in Aarau reichten Glarner bald nicht mehr. Er beschloss 2007, für den Nationalrat zu kandidieren.


An einem Dienstagnachmittag im vergangenen September, wenige Wochen vor den nationalen Wahlen, entdeckte Johanna Gündel auf Facebook eine Nachricht ihrer deutschen WG-Mitbewohnerin: «Liebe Schweiz, schau doch bitte, dass solche Politiker nicht gewählt werden!», schrieb diese – und verlinkte einen Videobeitrag des ARD-«Morgenmagazins». Titel: «Ein Schweizer Dorf kauft sich von Flüchtlingen frei».

Als Gündel den Link öffnete, traute sie ihren Augen kaum. Das Schweizer Dorf im Videobeitrag war Oberwil-Lieli. Doch um ihr Heimatdorf ging es nur am Rand – der Hauptdarsteller im Beitrag war der Gemeindeammann. Bereits der allererste Satz von Andreas Glarner entfachte Johanna Gündels Wut: «Wir möchten zurzeit keine Asylbewerber aufnehmen.»

«Dieses ‹Wir› blieb im ganzen Beitrag so stehen. Als ob das ganze Dorf keine Flüchtlinge wollte. Das stimmte einfach nicht, längst nicht alle waren damit einverstanden», sagt Gündel. Herr Glarner habe Oberwil-Lieli für seinen Nationalratswahlkampf missbraucht. «Unser Dorf war plötzlich über die Landesgrenzen hinaus als Hort der Fremdenfeindlichkeit berühmt.»

Von da an fand Johanna Gündel keine Ruhe mehr. Tigerte in ihrer Wohnung herum und spürte, dass sie etwas tun musste. Setzte sich wieder an ihren Computer und sah – wiederum auf Facebook –, dass eine Jugendfreundin von ihr zu einer Kundgebung am darauffolgenden Sonntag in Oberwil-Lieli aufgerufen hatte. Sofort trat Gündel mit ihr in Kontakt. Nach dem Gespräch stand fest, dass Johanna Gündel an der Kundgebung eine Ansprache halten würde. Auch das Motto stand fest: «Öffnen wir unsere Herzen statt die Gemeindekasse».

Am Sonntag nach der Veröffentlichung des ARD-Videobeitrags stand Gündel bei strahlendem Sonnenschein auf der grünen Wiese hinter der Bushaltestelle. Rund 150 Menschen hörten ihr zu, als sie sagte: «Am 27. November ist Gemeindeversammlung hier in Oberwil-Lieli. Der Gemeinderat muss den Willen der Bürger ernst nehmen. Darum, ihr Oberwil-Lieler, kommt an die Gemeindeversammlung. Dann setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass Oberwil-Lieli wieder für Menschen in Not Obdach und Schutz bieten kann.»

Erika Obrist, die seit Jahren für den «Bremgarter Bezirks-Anzeiger» über das politische Geschehen auf dem Mutschellen berichtet, zeigte sich «überrascht, wie viele Leute aus dem Dorf an der Kundgebung waren».

Auch Andreas Glarner hörte an jenem Sonntag, was Johanna Gündel sagte. Er stand etwas abseits der Menschenmenge, von zwei Bodyguards umschwirrt, und kommentierte die Kundgebung später im Regionalfernsehen: «Es sind ein paar wenige von Oberwil-Lieli hier, der Rest sind Fremde, vor allem sogar Zürcher. Ich bin etwas überrascht, wie die Szene sich zusammenrotten kann.» Er ignorierte komplett, wie ernst es Johanna Gündel meinte. Das sollte sich als grösster Fehler seiner politischen Karriere entpuppen.

Nach der Kundgebung erhielt Johanna Gündel Mails und Anrufe von Leuten aus dem Dorf. Querbeet. Von Alten und Jungen, Alteingesessenen und NeuzuzügerInnen, Vermögenden und weniger Vermögenden. «Es war immer klar, dass wir mit unserer Haltung nicht alleine waren, aber erst nach der Kundgebung wussten wir, dass es so viele sind. Es gab also weitere Menschen im Dorf, die nicht einverstanden waren mit dem Gemeindeammann und die nicht länger tatenlos zusehen, sondern handeln wollten.»

Aus dem Austausch mit Gleichgesinnten entstand bald die Idee, ein Treffen zu organisieren und das weitere Vorgehen zu besprechen. Daraus ist Anfang Oktober die IG Solidarität entstanden. «Wir wollten keine politische Partei gründen. Es ging uns allein um die Flüchtlingssituation in unserem Dorf. Wir sind alle überzeugt, dass Oberwil-Lieli solidarisch sein soll. Wenngleich die Aufnahme der acht Flüchtlinge auch Herausforderungen mit sich bringt, wollen wir sie willkommen heissen. Das ist eine Frage der Menschlichkeit», sagt Gündel.

Also entwarf die IG im Hinblick auf die nahende Gemeindeversammlung vom 27. November einen Antrag: Die Gemeinde solle die ihr zugeteilten AsylbewerberInnen aufnehmen und den im Budget 2016 vorgesehenen Betrag von 290 000 Franken nicht als Ersatzabgabe verwenden. Gündel würde den Antrag im Namen der IG Solidarität stellen.


2007 kandidierte Andreas Glarner erstmals für den Nationalrat – von einem hinteren Listenplatz aus. Er wusste, dass er als fähiger Finanzpolitiker chancenlos bleiben würde. Eine neue Rolle musste her. Eine Rolle, die ihm mediale Aufmerksamkeit bescheren würde. Denn Medienpräsenz würde sich mehr auszahlen als die üblichen Propagandainstrumente wie Plakate, Flyer oder gar mühseliges Klinkenputzen.

So begann vor rund zehn Jahren die Verwandlung von Andreas Glarner in den schrillsten SVP-Hetzer im Land, der stets dasselbe Programm, geprägt von Provokationen, Tabubrüchen und unverhohlenem Rassismus, abspult. So kommentierte er ein Youtube-Video von Pro-Palästina-Protesten in Paris gegenüber einer «Tages-Anzeiger»-Journalistin vor zwei Jahren wie folgt: «Sehen Sie dieses Pack, das man sich da herübergeholt hat? Achten Sie auf die Hautfarbe!» Als ihn die Journalistin deswegen als fremdenfeindlich bezeichnete, entgegnete er: «Ja, sehen Sie hier etwa Original-Franzosen?»

Den ersten Auftritt in seiner Rolle als Hetzer hatte er während der Kampagne für die Nationalratswahlen im Herbst 2007. Glarner entwickelte eine Plakatreihe mit Sprüchen wie: «Baden oder Bagdad?» und «Aarau oder Ankara?» Daneben war ein Minarett oder eine Frau in einem Nikab abgebildet. Als die ersten Plakate aufgehängt waren, löste die Kampagne den gewollten Dominoeffekt aus: Die Sujets verbreiteten sich in den Medien wie ein Lauffeuer, und jeder Kommentar dazu, jeder LeserInnenbrief und jede Anzeige wegen Rassendiskriminierung bescherte der islamfeindlichen Kampagne weitere Aufmerksamkeit. Doch für einen Nationalratssitz reichte es vorerst nicht.

Andreas Glarner durchschaute eine weitere Wechselwirkung von Medien und Politik: Die Person ist wichtiger als der Inhalt. Er begann, bewusst auf den Mann zu spielen. Als Erstes traf es im Winter 2009 den Aargauer Bildungsdirektor Rainer Huber (CVP), der damals versuchte, eine grosse kantonale Bildungsreform durchzubringen – gegen den massiven Widerstand der SVP. Im Vorfeld des zweiten Wahlgangs der kantonalen Regierungsratswahlen publizierte die «Aargauer Zeitung» ein Inserat, auf dem vier weinende Kinder abgebildet waren. Dazu der Satz: «Aargauer Kinder sind erschüttert: Rainer Huber kandidiert nochmals …» Urheber des Inserats war – zusammen mit einem FDP-Kollegen – Andreas Glarner. Der Bildungsdirektor wurde abgewählt, und Glarner prahlt bis heute auf seiner Website mit dem Inserat: «Etwas teuer, aber hochwirksam. Unvergessen, wie die Classe politique und die Gutmenschen des Aargaus aufheulten.»

Später geriet die grüne Regierungsrätin Susanne Hochuli ins Visier von Andreas Glarner. Sie hat den unzähligen persönlichen und diffamierenden Angriffen bisher standgehalten. Mehr noch: Als sie 2012 wieder in die Regierung gewählt wird, verweigert Hochuli Glarner den Handschlag. «Ich musste mir monatelang bei jeder Gelegenheit anhören, ich sei auf der ganzen Linie unfähig. Diese Meinung darf er haben, aber dann muss er mir nicht zur Wiederwahl gratulieren», sagt Hochuli über ihre symbolische Geste.

Es gehe darum, einer Figur wie Glarner die Stirn zu bieten, meint Hochuli, und das geschehe hier im Aargau viel zu wenig. Wieso liess man ihm im Parlament alles durchgehen?, fragt sie sich. Und wieso wurde er nicht konsequent zurechtgewiesen, wenn er ausfällig wurde? «Das regt mich fast mehr auf als der Andi Glarner selbst», sagt Hochuli, die ihrem politischen Widersacher wohl auch deshalb Paroli bieten kann, weil sie das Rollenspiel von Glarner durchschaut und so die nötige Distanz wahren kann: «Ich kenne kaum einen Menschen, der so gespalten auftritt. Auf der politischen Bühne ist er absolut unerträglich, abseits davon habe ich ihn schon sehr empathisch und sympathisch erlebt. Keine Ahnung, wie er das zusammenbringt.»

In Oberwil-Lieli schaffte es Andreas Glarner immer seltener, aus seiner für die grosse politische Bühne antrainierten Rolle auszubrechen. Zunehmend führte er die Gemeindeversammlungen nicht mehr wie ein Gemeindeammann, sondern wie ein SVP-Roboter. «Es kam vor, dass Herr Glarner Leute blossgestellt hat. Es haben auch schon Gemeindemitglieder die Versammlungen unter Tränen verlassen», sagt Erika Obrist vom «Bremgarter Bezirks-Anzeiger».

Und doch: Das Gebaren von Glarner stiess in Oberwil-Lieli praktisch auf keinen Widerstand. Es lief ja vieles wie geschmiert, die Gemeindekasse blieb stets gut gefüllt. Als im Sommer 2009 doch einmal jemand aus dem Dorf gegen den Gemeindeammann aufbegehrte, ging das fürchterlich schief.

Matthias Ammann war knapp zwanzigjährig damals, hatte gerade seine Matura gemacht und war Mitglied bei der Juso. Aus Jux gründete ein Kollege von ihm die Facebook-Gruppe «Wollt ihr Glarner – oder einen wahren Ammann?» Rasch traten der Gruppe ein paar Leute bei. «Und plötzlich stand die Frage im Raum: Warum ziehen wir das nicht durch?», erinnert sich Ammann. «Schliesslich sagte ich zu.» Ein eigentlicher Wahlkampf mit Podien und dergleichen fand damals nicht statt. Dafür eine Schlägerei. Am Dorffest verpasste ein Jugendlicher Ammann eine Kopfnuss und gab diesem zu verstehen, er sei hier «in einem SVP-Dorf». Die Kopfnuss steckte Matthias Ammann rasch weg, ihn schockierte etwas anderes: «Glarner behauptete nach dem Vorfall in den Medien, ich hätte den Jugendlichen zuvor provoziert. Das stimmte nicht. Aber das war ihm egal.»

Nach dem erfolglosen Putschversuch von Matthias Ammann blieb es in Oberwil-Lieli sechs Jahre lang ruhig. Bis am 27. November 2015, an der letzten Gemeindeversammlung, plötzlich doppelt so viele Leute wie üblich in der Aula sassen.


Das Hetzprogramm lief auch an jenem Freitagabend im November. Dabei sprach alles dafür, es abzuschalten. Die Medien liebten die Story, die ihnen Oberwil-Lieli in den Wochen davor geboten hatte. Hier der Hardliner und Politprofi Andreas Glarner – dort die unverbrauchte Studentin Johanna Gündel, die an die Menschlichkeit appelliert. Es war absolut klar, wo die Sympathien lagen. Doch Glarner, der im Oktober den Sprung in den Nationalrat geschafft hatte, konnte sein Programm nicht stoppen: Am Vortag der Gemeindeversammlung liess er dem amtlichen Publikationsorgan ein anonymes Flugblatt beilegen – ein übles Pamphlet gegen Flüchtlinge. An der Versammlung selbst eröffnete der Gemeindeammann die entscheidende Budgetdebatte, die die Frage nach der Ersatzabgabe von 290 000 Franken klären würde, mit einer Powerpoint-Präsentation mit Bildern von Männern mit Sprengstoffgürteln und Frauen in Burkas. Umgehend rief jemand im Saal: «Chasch höre!» Und ein anderer: «Zur Sach!»

Zwei Stunden später, nach einer intensiven Debatte, folgte die Abstimmung. Der Antrag von Johanna Gündel kam mit 176 Ja- zu 149 Nein-Stimmen durch. Eine Mehrheit der anwesenden Stimmberechtigten von Oberwil-Lieli lehnte das Vorhaben des Gemeinderats, sich per Ersatzabgabe von der Pflicht freizukaufen, Flüchtlinge aufzunehmen, ab.

Bis heute ist allerdings offen, ob Oberwil-Lieli tatsächlich Flüchtlinge aufnehmen wird. Nach der turbulenten Generalversammlung ergriff ein SVP-Mitglied der Gemeinde das Referendum gegen den Antrag von Johanna Gündel – und reichte gleich noch eine Beschwerde beim Kanton gegen den Antrag ein. Begründung: Der Gemeinderat habe den Antrag fälschlicherweise an die Debatte zum Gesamtbudget gekoppelt. Der Gemeinderat selbst unterstützte die Beschwerde mit seinen offiziellen Stellungnahmen vehement. Vergebens: Anfang März entschied das kantonale Verwaltungsgericht, dass der Antrag an der Gemeindeversammlung rechtens war.

Am 1. Mai kommt es nun zur Referendumsabstimmung. Dann entscheidet sich, ob eine der reichsten Aargauer Gemeinden bereit ist, acht Flüchtlinge aufzunehmen. Die beiden Lager beginnen bereits mit der Mobilisierung, der Ton wird schärfer. So wirft die IG Solidarität dem Gemeinderat vor, das Protokoll der Gemeindeversammlung in seinen Stellungnahmen bezüglich der Beschwerde nicht wahrheitsgetreu wiedergegeben zu haben. Der happige Vorwurf ist zurzeit öffentlich nicht überprüfbar, der Gemeinderat hält das Protokoll unter Verschluss. Sollte sich dieser Vorwurf erhärten, wird die Luft für Andreas Glarner dünn.

Das ist die Pointe dieser Geschichte: Im Zenit seiner politischen Karriere – als frisch gewählter Nationalrat und designierter Asyldossier-Verantwortlicher in der nationalen SVP – erleidet Andreas Glarner schmerzliche Niederlagen. Die bitterste könnte ihm noch bevorstehen. Es ist kein Zufall, dass ihm eine parteilose junge Frau aus seinem eigenen Dorf diese Niederlagen beschert.

Johanna Gündel hat den Schwachpunkt von Glarners Programm geknackt: Es ist komplett auf parteipolitische GegnerInnen fixiert. Eine Figur wie Gündel, die ganz einfach nicht will, dass eine grüne Wiese zu einem Symbol der Abschottung wird, war darin nicht vorgesehen.


PS: Am 28. Februar lehnten in Oberwil-Lieli – bei einer rekordhohen Stimmbeteiligung von 76 Prozent – 652 Stimmberechtigte die Entrechtungsinitiative der SVP ab. Demgegenüber standen 553 Ja-Stimmen.

Nachtrag vom 5. Mai 2016 : Rückschlag in Oberwil-Lieli

Sogar das Westschweizer Fernsehen war am Sonntag in der Aargauer Gemeinde Oberwil-Lieli vor Ort, um das vorläufige Ende eines Konflikts zu filmen, der die Öffentlichkeit seit Monaten beschäftigt. Die Stimmberechtigten sollten an der Urne entscheiden, ob ihre Gemeinde zehn Asylsuchende aufnimmt oder lieber eine Ersatzabgabe von rund 400 000 Franken an den Kanton bezahlt. Eine knappe Mehrheit sprach sich schliesslich gegen die Aufnahme von Asylsuchenden aus. So stand Andreas Glarner, der Gemeindeammann von Oberwil-Lieli und notorische SVP-Hardliner, am Ende als Sieger da.

Die unterlegene IG Solidarität Oberwil-Lieli, die sich für die Aufnahme von Flüchtlingen im Dorf starkmachte, zeigte sich nach der Abstimmung enttäuscht. Johanna Gündel, die zum Gesicht des Widerstands gegen die Asylpolitik von Gemeindeammann Glarner geworden ist, sagte gegenüber dem Nachrichtenportal «Watson», die IG Solidarität werde an der nächsten Gemeindeversammlung Mitte Juni «sicher nicht» einen erneuten Antrag stellen, um die Ersatzabgabe aus dem Budget zu streichen.

Das letzte Kapitel im Dorfkonflikt ist mit der Abstimmung vom Sonntag allerdings nicht geschrieben. Die IG Solidarität wird weiter bestehen und will sich langfristig als (asyl-)politische Alternative zum rein bürgerlichen Gemeinderat etablieren. Die Zeiten, in denen Gemeindeammann Glarner unwidersprochen die politische Agenda des Dorfes bestimmen konnte, sind jedenfalls vorbei.

Jan Jirát

Recherchierfonds

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