Terrorismus in Brüssel: BrückenbauerInnen braucht das Land

Nr. 12 –

Seit Jahren wird in Belgien vor SyrienrückkehrerInnen gewarnt. Doch auf die Frage, warum die Hauptstadt nun zum Ziel der Dschihadisten wurde, gibt es keine einfachen Antworten.

Nicht einmal zwei Jahre ist es her, dass beim Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel vier Menschen umkamen. Damit hatte der Terror Belgien erreicht, bewaffnete SoldatInnen bewachen seither jüdische Einrichtungen in Brüssel und Antwerpen. Gehörten die Camouflage-Uniformen nicht zu den orthodoxen JüdInnen, den Schläfenlocken und Hüten des Diamantenviertels? Das mochten sich viele denken – in der Annahme, jenseits davon ihr Leben ungestört weiterführen zu können.

Der Umschwung kam schnell. Spätestens seit den Anschlägen vom vergangenen Dienstag weiss die belgische Bevölkerung: JedeR kann zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sein. Die zahlreichen belgischen SyrienkämpferInnen hatten mehrfach gedroht, dass in ihrem Herkunftsland alles zur Zielscheibe werden könne. Der Nahostexperte Pieter Van Ostaeyen geht von mehr als 550 BelgierInnen aus, die zu DschihadistInnen wurden – im Vergleich zur Bevölkerungszahl ist das mehr als in jedem anderen Land Westeuropas. Allein die Arithmetik legte nahe, dass die Drohungen irgendwann umgesetzt werden könnten.

Seit 2013 hatten Politiker wie Expertinnen vor SyrienrückkehrerInnen gewarnt. Die Attacke auf das Jüdische Museum 2014 war der erste Schlag. Im Januar 2015 flog im Städtchen Verviers eine Terrorzelle auf, die kurz vor einem Attentat stand. Die Ermittlungen nach den Anschlägen von Paris machten vollends klar, dass Belgien zum Zentrum des bewaffneten Dschihadismus geworden ist.

Der Nelson Mandela von Molenbeek

Die Willkür der terroristischen Bedrohung sollte jedoch nicht den Blick für Erklärungen verdecken. Wieso Belgien, Brüssel, Molenbeek, fragt man sich seit Monaten. In Belgien selbst tat man sich vor allem nach den Pariser Anschlägen vom 13. November 2015 schwer zu akzeptieren, dass es auf diese Fragen keine einfachen Antworten gibt.

Der bislang starre Diskurs spiegelt die politische Kultur des Landes wider: Die konservativ-flämische Seite sucht die Verantwortung vor allem in der Klientelpolitik, die der Parti Socialiste (PS) in der von maghrebinischen MigrantInnen geprägten Kommune Molenbeek betreibt. Der PS habe den Islamismus im Stadtteil geduldet und MuslimInnen toleriert, die die Integration verweigern. Die sozialdemokratisch-frankofone Seite macht dagegen die latente Fremdenfeindlichkeit, vor allem in Flandern, für die Radikalisierung von jugendlichen MigrantInnen verantwortlich und prangert die Diskriminierung und Chancenungleichheit an.

Einer, der diesen Zwist überwindet, ist Montasser AlDe’emeh. Der junge Politologe aus Molenbeek wollte einst selbst Dschihadist werden. Heute versucht er, «Jugendliche, die den Lockruf des Kalifats hören», von entsprechenden Ideen abzubringen. AlDe’emeh, dessen Eltern aus Palästina stammen, ist eine der Stimmen, die beide Seiten zur Verantwortung mahnen. Er nennt sich einen «radikalen Versöhner». Der Medienhype um ihn lässt ihn bisweilen als künftigen Nelson Mandela von Molenbeek erscheinen. Er zeigt aber auch, wie viel Bedarf an BrückenbauerInnen Belgien hat.

Nach den Anschlägen von Brüssel schrieb Montasser AlDe’emeh einen Brief. Darin bot er den belgischen Sicherheitsbehörden sein Wissen an, mit bemerkenswerter Begründung: «Dies ist mein Land! Ich sehe diese Gesellschaft als eine Gemeinschaft ohne ethnische Grenzen.» Und weiter: «Mein Land wurde getroffen. Ich war Belgien immer dankbar. Meine Eltern wurden hier gastfreundlich aufgenommen. Ich bekam alle Chancen und konnte studieren. Nun will ich meinem Land gerne dienen.»

Das Wir als Abgrenzung

Belgien täte eine kräftige Dosis von AlDe’emehs Gesellschaftsvision gut. Wie die Schweiz verfügt das multilinguale Land über ein enormes Potenzial, das in Belgien jedoch brachliegt. Der beladenen Historie zwischen den Sprachgruppen wegen zog man gar vor gut fünfzig Jahren mit enormer Penibilität eine offizielle «Sprachgrenze», hinter der man sich seither in der jeweils eigenen linguistischen Realität verschanzt.

Die Idee, eine klare nationale Identität befördere automatisch die Integration, ist ebenso billig, wie sie ein kritisches Verhältnis zum Nationalstaat vermissen lässt. Dennoch wäre wohl einiges gewonnen, gäbe es in der belgischen Bevölkerung so etwas wie ein Wir-Gefühl, das alle BewohnerInnen des Landes, alle Ethnien und Religionsgruppen einschliesst.

In Wallonien ist ein solch offenes Wir kaum vorhanden, wie sich auch sonst jedes Wir in Abgrenzung zu den dominanten FlamInnen formuliert. In Flandern wiederum ist das kollektive Selbstverständnis der Mehrheit seit Jahrzehnten exklusiv und chauvinistisch. Wenn sich in diesem Land jemand ausdrücklich positiv auf eine Belgitude bezieht, sind das entweder Fussballfans oder die deutschsprachige Minderheit.

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