Fussball und andere Randsportarten: Im Rhythmus des Herzens

Nr. 13 –

Pedro Lenz verneigt sich vor Johan Cruyff

Johan Cruyff war zwölf Jahre alt, als sein Vater einem Herzinfarkt erlag. Das Herz war auch bei Johan nicht das stärkste Organ. Es schlug mal schneller und mal langsamer. Doch der Halbwaise aus der Amsterdamer Siedlung Betondorp schaffte aus den Rhythmuswechseln in seiner Brust einen eigenen Kunststil. Wie sein Herz konnte auch er selbst unvermittelt das Tempo variieren. Zur Verwirrung seiner Gegner und zur Verzauberung des Publikums spielte er bald adagio, bald presto, bald prestissimo, um dann unvermittelt ins Andante oder Largo zu wechseln.

Als er auf den Strassen seiner Siedlung keine ernst zu nehmenden Gegner mehr fand, trat er der Jugendabteilung von Ajax Amsterdam bei. Seine hagere Gestalt und sein kränkliches Aussehen standen im Widerspruch zur Perfektion, mit der er den Ball behandelte. Weil Johan so viel besser spielte als seine gleichaltrigen Mitspieler, teilten ihn die Jugendtrainer immer bei denen ein, die zwei oder drei Jahre älter waren. Um sich auch gegen die grösseren und robusteren Gegner durchzusetzen, perfektionierte Cruyff laufend seine Technik und seine Rhythmuswechsel. Mit siebzehn Jahren stieg er zu den Profis auf. Da hatte er bereits die Angewohnheit, mehrere Schachteln filterlose Zigaretten am Tag zu rauchen.

Ajax Amsterdam wuchs mit Johan Cruyff und umgekehrt. Bis 1973 gewann Cruyff dreimal den Europacup der Meister, die heutige Champions League. Dann wechselte er zum FC Barcelona, der in jener Zeit seit Jahrzehnten keinen Blumentopf mehr gewonnen hatte. Mit Cruyffs Magie kehrte Barcelona zu alter Grösse zurück. Der langhaarige Holländer wurde in Barcelona zum Hoffnungsträger des Antifranquismus, weil er im Februar 1974 seinen Sohn auf den Namen des katalanischen Nationalheiligen Jordi taufen liess. Während der Franco-Diktatur wurden katalanische Namen in Geburtsurkunden nicht akzeptiert. Er müsse seinen Sohn als Jorge eintragen lassen, beschied ihm deswegen das Zivilstandsamt. Mit der Behauptung, in seiner Familie habe der Name Jordi Tradition, trickste Cruyff die Beamten aus.

Seinen Zenit als Spieler erreichte die legendäre Nummer 14 an der Weltmeisterschaft 1974. Mit der niederländischen Nationalmannschaft spielte Cruyff den attraktivsten Fussball des Turniers. Selbst die Finalniederlage gegen Deutschland änderte nichts daran, dass das Oranje-Team von 1974 bis heute zu den unvergessenen Mannschaften der Fussballweltgeschichte zählt. Cruyffs Art, zu spielen, seine Fähigkeit, das Spiel immer neu zu interpretieren, und besonders seine unnachahmlichen Rhythmuswechsel inspirierten im Lauf seiner Karriere Kunstschaffende verschiedener Sparten.

Zwanzig Jahre nach seinem Debüt und nach Stationen in den Niederlanden, in Spanien und den USA beendete Cruyff seine aktive Laufbahn im Jahr 1984. Als Trainer bei Ajax und beim FC Barcelona erfand er den Fussball gleichsam neu. Durch das Zusammenrücken aller Linien machte er das Feld klein. Auf kleinem Raum, so die Logik des ehemaligen Strassenfussballers, überlistet der filigrane Techniker den robusten Athleten. Seine Spielweise mit vielen Ballkontakten, ständiger Rotation aller Spieler und abrupten Tempowechseln führte Barcelona zum erstmaligen Gewinn der Champions League. Das sogenannte Tiki-Taka-System, das Spanien zu zwei Europa- und einem Weltmeistertitel verhalf, geht auf Cruyffs Spielphilosophie zurück.

Im vergangenen Herbst erkrankte Cruyff, der 1991 einen schweren Herzinfarkt überlebt hatte, an Lungenkrebs. Letzte Woche verstarb er im Alter von 68 Jahren in Barcelona. Johan Cruyff hinterlässt viel mehr als die Erinnerung an einen phänomenalen Spieler und Trainer. Er hat dem Fussball eine zuvor nicht gesehene Magie geschenkt. Damit hat er einen proletarischen Zeitvertreib in die Sphären der Kunst erhoben. Wer den Fussball liebt, wird ihm hierfür ewig dankbar sein.

Pedro Lenz ist Schriftsteller und lebt in Olten. Fast alles, was er über Rhythmus weiss, hat er in der Kindheit bei Johan Cruyff abgeschaut.