Recep Tayyip Erdogan: Täter aus Überzeugung

Nr. 16 –

Seit seinen Anfängen in der Politik im Jahr 1994 hat der türkische Machthaber einen erstaunlichen Wandel vollzogen. Ein bearbeiteter Auszug aus der neuen Erdogan-Biographie der WOZ-Mitarbeiterin Cigdem Akyol.

Ein Mann wie Recep Tayyip Erdogan, der als Mitglied einer islamistischen Partei 1994 das Amt des Istanbuler Bürgermeisters erobert, ist im säkularen kemalistischen System nicht vorgesehen. Denn zu diesem Zeitpunkt ist die Gesellschaft noch in «schwarze Türken» («Siyah Türkler») und «weisse Türken» («Beyaz Türkler») gespalten – ein diskriminierendes System, das erst durch Erdogans Aufstieg endgültig abgeschafft wird. Zu den «weissen Türken» zählt die kemalistische Elite, die das Land über Jahrzehnte regiert und Militär, Justiz und Medien dominiert. Streng dem Säkularismus verpflichtet, behält sie sich vor, über das Zusammenleben und die Gestaltung der politisch-kulturellen Strukturen zu entscheiden.

Dabei schaut sie auf die «schwarzen Türken» wie Erdogan herab. Denn diese sind arm, religiös-konservativ und ungebildet. Politische Teilhabe wird ihnen verweigert. «Schwarze Türken» dürfen die Häuser der «weissen Türken» putzen, ansonsten haben sie darin nichts verloren – so sind das Militär und die kemalistische Opposition angesichts des Erfolgs des politischen Islam alarmiert.

Schliesslich gibt ein bekanntes Gedicht den Vorwand, unter dem die Kemalisten Erdogan zur Strecke bringen. Am 12. Dezember 1997 trägt er in Siirt, der Heimatstadt seiner Frau Emine, einige Verse des Dichters Ziya Gökalp (1875–1924) vor. Der nationalistische Intellektuelle stand der pantürkischen Idee nahe und sprach sich für die Übernahme westlicher Ideen in nur kleinen Dosen aus. Vor rund 5000 Anhängern beginnt Erdogan seinen Auftritt – wie er es oft tut – mit der Rezitation eines Gedichts.

Dabei fällt auch der Satz: «Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Soldaten.» Und: «Ich sage es immer wieder – wir sind keine Hundertmeterläufer, wir sind Langstreckenläufer, Marathonläufer. Aber unser Marathon ist nicht 42 Kilometer lang. Unser Marathon wird erst mit unserem letzten Atemzug enden. (…) Und ich sage es mit stolzgeschwellter Brust: Meine Referenz ist der Islam. Brüder und Schwestern, wenn ich nicht das Recht habe, das zu sagen, welchen Sinn hat dann für mich als Menschen das Leben?»

Vom Gesetzesbrecher …

Der Auftritt hat Folgen. Am 21. April 1998 verurteilt das Staatssicherheitsgericht von Diyarbakir Erdogan in einem politisch motivierten Prozess wegen «Aufstachelung zur Feindschaft» zu zehn Monaten Gefängnis und erteilt ihm lebenslanges Politikverbot. Die Minarettverse seien ein Aufruf zum Sturz der weltlichen Regierung, begründet der Richter sein Urteil. Dass Gökalps Gedichte gleichzeitig Pflichtlektüre an staatlichen Schulen sind, wird ausser Acht gelassen. Entsprechend gering ist Erdogans Einsicht: «Ich werde meine Identität, meine Persönlichkeit, meinen Glauben, die Gedanken, von denen ich überzeugt bin, ausleben und aussprechen», beharrt er und erklärt, er habe diese Verse schon Hunderte Male vorgetragen – sogar auf dem Taksimplatz. Nie sei etwas geschehen. Vollkommen zu Recht befindet er: «Wenn ich kein Gedicht lesen würde, sondern ein Nummernschild, würden sie wieder einen Grund finden, mich in den Knast zu sperren.»

Das Urteil nimmt er stramm stehend mit regungsloser Miene entgegen. Er ist nun ein verurteilter Islamist, ein Gesetzesbrecher. «Natürlich habe ich im Grunde genommen so ein Urteil nicht erwartet. Natürlich wäre es gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mich das im ersten Moment nicht mitgenommen hat», sagt er später. Er kritisiert, die Türkei sei kein Rechtsstaat, und befindet: «Ich habe kein ehrenrühriges Verbrechen begangen. Ich war kein Vaterlandsverräter. Ich habe nicht gestohlen. Ich habe nur meine Meinung gesagt. Ausserdem war ich in Anwesenheit Gottes und des Volks nicht spaltend, sondern versöhnend.»

Die Verurteilung hinterlässt tiefe Spuren bei Erdogan. Nach dem Wahlsieg der AKP 2002 erklärt er öffentlichkeitswirksam, dass nun niemand mehr «für seine Meinung, seine Gedanken und seinen Glauben» mit Gefängnis bestraft werden dürfe. Er deutet die Haftzeit als Zeichen der Diskriminierung ihm gegenüber, dem frommen «schwarzen Türken». Immer wieder pocht er darauf: «In diesem Land gibt es eine Trennung zwischen weissen Türken und schwarzen Türken; euer Bruder Tayyip ist einer der schwarzen Türken.»

Rückblickend wirken alle Worte und Erklärungen rund um seine Haftzeit wie ein einziger grosser Hohn. Denn je mehr Macht Erdogan später innehat, desto mehr wird er darüber wachen, welche Meinungen in der Türkei öffentlich geäussert werden. Die noch unter dem Eindruck der eigenen Festnahme geäusserten demokratischen Versprechen sind nicht mehr als Worthülsen. Ob sie damals eine gewisse Demokratiegläubigkeit ausdrückten oder rein taktische Überlegungen darstellten, lässt sich schwer sagen. Für all die inhaftierten Journalisten und sonstigen im Gefängnis sitzenden Erdogan-Kritiker dürfte die Antwort jedoch klar sein.

… zum Freiheitskämpfer

Was folgt, ist das Achsenjahr in seiner Biografie. Am 26. März 1999 muss Erdogan seine Haftstrafe antreten. Den Hunderten Menschen, die sich vor seiner Wohnung im Istanbuler Stadtteil Üsküdar versammelt haben, ruft der wie immer in einen dunklen Anzug gekleidete 44-Jährige sichtlich bewegt und mit seiner unverkennbar kräftigen Stimme zu: «Ich nehme nicht Abschied von euch. Das ist kein Abschied. So, wie ich es immer sage, wird dies nur eine Strophe, eine Station eines Liedes, das nie endet.» Die Menge jubelt: «Das Volk ist stolz auf dich!» Daraufhin fährt Erdogan für ein Gebet in die Istanbuler Eyüp-Sultan-Moschee, ein kilometerlanger Konvoi begleitet ihn schliesslich zur Fahrt ins Gefängnis Pinarhisar, das rund 190 Kilometer von Istanbul entfernt liegt.

Auf Bildern ist Emine Erdogan zu sehen, die eine Sonnenbrille trägt, um ihre Tränen zu verstecken. Ein letztes authentisches Menscheln der späteren First Lady, die für ihren immer gleichen steifen Gesichtsausdruck bekannt ist. Bevor sich die Gefängnistore hinter ihm schliessen, hält Erdogan eine Ansprache. Darin sagt er: «Die Türkei der nuller Jahre wird eine helle und schöne Türkei sein. Aber dafür müssen wir alle viel tun. Ich verspreche, dass ich da drin viel arbeiten werde. Und ihr müsst in der Schule viel lernen. Was auch immer ihr werden möchtet, auf dem Gebiet müsst ihr euch bilden. Um gute Ingenieure, gute Lehrer, gute Ärzte, gute Manager, gute Juristen zu werden, müsst ihr viel lernen. Ich gehe jetzt und erledige meine Hausaufgaben. Auch ihr müsst eure Hausaufgaben gut erledigen.» Sogar die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beschäftigt sich mit diesem Fall, und auch diejenigen, die ihn nicht gewählt haben, sind entsetzt: Dass jemand wegen des Zitierens eines Gedichts ins Gefängnis kommt, halten viele für Unrecht.

Zögling eines Islamisten

Erdogan muss nicht allzu lange in einer Zelle hausen – seine Strafe wird auf vier Monate reduziert. Wohlwollende Biografen schildern, an Besuchstagen sei das Gefängnis voller Menschen gewesen, die den Insassen sehen wollten. Um die Fanbesuche zu organisieren, sei an einer Tankstelle ein Büro eröffnet worden, in dem potenzielle Besucher ihre Namen hinterlegen konnten, die an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet wurden. Die täglich zulässige Besucherzahl im Gefängnis wird wegen des grossen Andrangs angeblich auf 400 Gäste reduziert.

Und weil einer wie Erdogan niemals aufgibt, hält er nur wenige Stunden nach seiner Haftentlassung eine Pressekonferenz ab. Er kann und will trotz des Berufsverbots nicht von der Politik lassen: «Ich habe die Zeit im Gefängnis damit verbracht, dass ich nach Lösungen für die Probleme meines Lands und meines Volks gesucht habe.» Er gibt sich tatkräftig und optimistisch und inszeniert sich weiterhin als fleissigen, demütigen Mann, der nur für «sein Volk» arbeite. Später erklärt er, er habe jeden einzelnen Brief beantwortet, den er bekommen habe. Hinter Gittern habe er zudem Vorbereitungen für die Gründung einer eigenen Partei getroffen.

Der Zögling des Islamisten Necmettin Erbakan macht sich selbstständig und kündigt das auch selbstbewusst an: «Eine Partei, die fest entschlossen ist, an die Macht zu kommen, muss ein Falke sein. Herden können keine Falken sein.» Er hat erkannt, dass ihn seine alte fundamentalistisch-religiöse Agenda nicht weiterbringen würde. Von nun an präsentiert sich Erdogan als geläuterten Exislamisten, dessen neues Ziel eine lupenreine Demokratie ist.

Und zu einem Zeitpunkt, als sich seine Gegner als weltfremde Elitemenschen entlarven, die sich nicht um die Bürger kümmern, wird klar: Erdogan ist ein Mann des Volks, womit er sich schmückt. Es ist seine besondere Masche, die eigene Biografie in Reden einzuflechten, sie hundertfach zu wiederholen und genau damit an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Hatte er sich bisher beharrlich geweigert, irgendeine Rolle zu spielen, orientiert er sich nun an neuen Spielregeln. Nach aussen hin wechselt er die Überzeugung, im Inneren bleibt er aber ein Überzeugungstäter. Obwohl er nun Umwege geht, bleibt er letztlich doch geradlinig.

Cigdem Akyol: «Erdogan. Die Biografie». Verlag Herder. Freiburg i. Br. 2016. 384 Seiten. 27 Franken.