Fussball und andere Randsportarten: Die Angst des Balljungen

Nr. 17 –

Pedro Lenz über Ohrfeigen am Spielfeldrand

In allen höheren Fussballligen der Welt gibt es Balljungen (seltener Ballmädchen), deren Aufgabe es ist, immer einen Ball bereitzuhalten, um ihn den Spielern im Bedarfsfall schnell zur Verfügung zu stellen. Die Balljungen werden von den Heimklubs aufgeboten, gehören also im weitesten Sinn zu einem der spielenden Teams. Die Aufgabe der Balljungen ist nicht besonders schwer. Sie stehen während eines Spiels in Abständen von einigen Metern am Spielfeldrand. Geht ein Ball ins Aus, wirft der am nächsten stehende Balljunge dem Spieler, der einwerfen oder abstossen will, schnell einen neuen Ball zu, sodass der Spieler im Bedarfsfall sofort weiterspielen kann. Danach holen sie jenen Ball, der rausgespielt worden ist, damit sie wieder einen haben, wenn er gebraucht wird.

Diese grundsätzlich leichte Aufgabe kann jedoch durch spezielle Anweisungen von aussen erschwert werden. Es kann zum Beispiel vorkommen, dass ein Team, das kurz vor Spielschluss knapp führt, daran interessiert ist, dass das Spiel verzögert wird. In solchen Fällen sind Balljungen von Aussenstehenden auch schon dazu angehalten worden, den Ball für die gegnerischen Spieler möglichst langsam herauszurücken, damit mehr Zeit verstreicht. Uns detailverliebten Fussballfans ist jedenfalls schon öfter aufgefallen, dass ein Balljunge vom Heimtrainer gerügt wurde, weil er sich dem gegnerischen Team gegenüber allzu dienstfertig verhielt.

In den Massenmedien wurde der mögliche Einfluss der Ballkinder zuletzt im Mai 2012 intensiver debattiert. Der Fussballklub Lausanne-Sport hatte ein Super-League-Heimspiel gegen den FC Sion knapp mit 1 : 0 gewonnen. Der damalige Sion-Spieler Serey Die war der Ansicht, einer der Lausanner Balljungen habe durch Verzögerung der Ballherausgabe das Spiel beeinflusst. Deswegen ging Serey Die unmittelbar nach Spielschluss zum betreffenden Balljungen, schimpfte mit ihm und haute ihm überdies noch eine runter.

Darüber, dass Profifussballer Balljungen idealerweise nicht schlagen sollten, gab es beim Straforgan des Fussballverbandes keinen Zweifel. Serey Die wurde für seine Aggression mit acht Spielsperren sanktioniert. Ob der Balljunge – egal ob aus eigenem Antrieb oder auf Befehl – tatsächlich Einfluss auf das Spielergebnis genommen hatte, wurde damals nicht untersucht. Doch die Ohrfeige von Lausanne sensibilisierte erstmals eine breite Fussballöffentlichkeit für die potenzielle Macht der Balljungen.

Am vergangenen Samstagabend kam es im Estadio Calderón in Madrid wieder zu einem bemerkenswerten Zwischenfall, bei dem ein Balljunge eine Schlüsselrolle spielte. Das Spiel zwischen Atlético Madrid und Málaga stand kurz vor dem Pausenpfiff noch 0 : 0, als Málaga zu einem schnellen und gefährlichen Konterangriff ansetzte. In diesem Augenblick flog plötzlich ein zweiter Ball aufs Spielfeld, der offensichtlich von einem Balljungen geworfen worden war. Dieser zweite Ball irritierte die angreifenden Spieler so sehr, dass sie den Angriff nicht sauber abschliessen konnten. Der zweite Ball hatte die Torchance zunichtegemacht.

Der Schiedsrichter ging davon aus, dass der Balljunge den Ball auf Anweisung des Atlético-Madrid-Trainers Diego Simeone zur Unzeit ins Spiel geworfen hatte. Er verbannte den Trainer auf die Tribüne. Und tatsächlich tauchten bald nach dem Spiel Filmaufnahmen auf, die zeigen, dass Simeone Sekunden vor dem Vorfall mit dem Balljungen spricht.

Was er ihm genau gesagt hat, wissen wir freilich nicht. Zurzeit sind keine Schuldeingeständnisse bekannt. Wir dürfen also auch annehmen, der Trainer habe dem Ballbuben gesagt, er soll den Ball gut festhalten. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er ihm zugerufen hat: «Pass auf, du Rotzlöffel, wenn du jetzt nicht sofort einen zweiten Ball ins Spielfeld wirfst, verrate ich Serey Die, wo du wohnst!»

Pedro Lenz (51) ist Schriftsteller und lebt in Olten. Er plädiert für Gewaltfreiheit innerhalb und ausserhalb von Sportstadien.