Schottland und Nordirland: Fluchtbewegungen

Nr. 26 –

Für die Randregionen des Unvereinigten Königreichs bietet das Verlassen der EU neue Perspektiven. Nicht sofort, aber in absehbarer Zukunft.

  • Anti-Brexit-AktivistInnen am «Big In» am 19. Juni im Londoner Hyde Park. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • Junge BritInnen am Fährhafen von Liverpool. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • Pro-Brexit-Bus an einer «Vote Leave»-Demonstration am 15. Juni in London. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • An einer Nostalgie-Autoshow in Wadebridge. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • Zwei Brexit-Anhängerinnen in Clacton-on-Sea, Essex. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif

Nicola Sturgeon, Schottlands Ministerpräsidentin, ist derzeit unter den britischen PolitikerInnen die Einzige, die eine Vorstellung davon hat, wohin die Reise gehen soll. Noch während Premierminister David Cameron, der das Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU aus reinen Opportunitätserwägungen angesetzt hatte, seinen Rücktritt erklärte, bekräftigte Sturgeon, was sie im Abstimmungskampf versprochen hatte: Sie werde bei einem Brexit Schottland in die Unabhängigkeit führen. «Die Frage ist wieder auf dem Tisch», sagte die Vorsitzende der linksorientierten Scottish National Party, die das Gesamtergebnis der Abstimmung offenbar nicht ganz so überrascht hat wie viele andere. Dann kündigte sie eine Reihe von Massnahmen an.

So werde ihre Regierung umgehend Kontakt zu allen EU-Staaten aufnehmen, um die Möglichkeiten eines Verbleibs von Schottland in der EU auszuloten – beziehungsweise um herauszufinden, wie schnell ein Wiedereintritt Schottlands stattfinden könnte. Beim Referendum über Schottlands Eigenständigkeit im Herbst 2014 (siehe WOZ Nr. 37/14 ) war eines der Haupthandicaps der UnabhängigkeitsbefürworterInnen gewesen, dass Brüssel sehr unwirsch reagiert hatte. Ein souveränes Schottland müsse sich in der Reihe der EU-BeitrittskandidatInnen ganz hinten anstellen, hiess es damals. Und überhaupt stünden die Chancen ziemlich schlecht: Spanien werde schon wegen Katalonien und dem Baskenland ein Veto gegen den Beitritt aller staatlichen Abspaltungen einlegen.

Rechtsstreitigkeiten absehbar

Doch das war einmal. Inzwischen klingen die Töne aus Brüssel und den grossen EU-Hauptstädten ganz anders. Hatten sich die international stets aufgeschlossenen SchottInnen mit 62 Prozent EU-Befürwortung nicht geradezu vorbildlich verhalten? Und wäre der schnelle EU-Beitritt eines unabhängigen Schottlands nicht die richtige Quittung für die englischen Brexit-AnhängerInnen mit ihren Träumen von Britanniens neuer Rolle in der Welt?

Sturgeon will auch abklären lassen, ob ein Brexit ohne Zustimmung des schottischen Parlaments überhaupt rechtens ist. Der Scotland Act von 1998 verpflichtet das damals neu geschaffene Regionalparlament, stets im Einklang mit EU-Gesetzen zu handeln. Von daher, so argumentieren manche, muss es mitentscheiden dürfen. Langwierige Rechtsstreitigkeiten sind nicht ausgeschlossen. Sicher aber ist: Seit dem Brexit-Votum ist der Anteil der UnabhängigkeitsbefürworterInnen stark angestiegen. Weit über die Hälfte der SchottInnen würden heute für den Austritt aus dem Vereinigten Königreich stimmen. Voraussetzung dafür ist allerdings ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Und das muss die nächste britische Regierung erst genehmigen. Trotz aller Hürden: Bleibt es beim Brexit, wird die Bewegung für eine schottische Selbstständigkeit kaum zu stoppen sein.

Irische Pässe begehrt

In Nordirland, wo ebenfalls eine Mehrheit (56 Prozent) fürs Bleiben stimmte, sind die Auswirkungen weniger klar. Die Führungsspitze der irisch-katholischen Partei Sinn Féin erhob zwar sofort die Forderung nach einem Referendum über die irische Wiedervereinigung. Doch die unionistisch-protestantische Partei DUP, die mit Sinn Féin die Regionalregierung dominiert, lehnte umgehend ab. Die DUP hatte als einzige der grossen nordirischen Parteien für den Brexit geworben; alle anderen waren dagegen.

Was aber wird aus dem Friedensprozess, der selbst achtzehn Jahre nach dem Karfreitagsabkommen von 1998 nicht abgeschlossen ist? Die EU hatte das Abkommen vermittelt, in dem sich die Unterzeichnenden – darunter Britannien – verpflichten, EU-Entscheidungen umzusetzen. Ist es nun hinfällig? Noch so eine Rechtsfrage. Rund zwei Milliarden Euro hat die EU bisher in Friedensinitiativen, Gemeinschaftsprojekte, Sozialmassnahmen und die Erneuerung der Infrastruktur gesteckt. Der rechte Tory-Flügel, der momentan triumphiert, wird bei weitem nicht so viel für die Peripherie ausgeben – im Gegenteil.

Das begreifen nun auch jene, die Britannien bisher treu ergeben waren. Seit dem Friedensabkommen können die NordirInnen die irische Staatsbürgerschaft beantragen, die britische – oder beide zugleich. Nach Bekanntgabe des Brexit-Resultats fanden Antragsformulare für den irischen Pass reissenden Absatz. Die Nachfrage kam nicht etwa von irischen KatholikInnen (die haben zumeist schon die irische Staatsangehörigkeit), sondern von protestantischen UnionistInnen. Vielleicht kommt das Referendum von Sinn Féin also doch noch.