Von oben herab: Armleuchtende Vorbilder

Nr. 34 –

Stefan Gärtner über das Veloentwicklungsland Schweiz

Diese Kolumne erreicht Sie aus meiner dänischen Sommerfrische, und das ist für Schweizer und Schweizerinnen vielleicht schon deshalb interessant, weil die dänische Grenze nicht mehr offen ist; oder jedenfalls nicht so offen, wie man das als Europäer mittlerweile gewohnt ist: Ein blaues Schild mit Sternenkreis, dann folgt ein leeres Grenzhäuschen, und schon ist man im nächsten Land.

Als ich im Frühjahr zwecks Recherche mit dem Kraftfahrzeug in Lissabon war, waren wir auf dem Rückweg schon über die spanische Grenze, als uns auf- und auch wieder einfiel, dass der Kraftstoff in Portugal viel günstiger ist. Also machten wir kehrt und querten die Grenze einfach noch einmal; und hatten den lustigen Gedanken, jetzt einfach den ganzen Tag von Spanien nach Portugal und von Portugal nach Spanien zu fahren, einfach aus Spass und bis man vielleicht doch einmal verhaftet wird wegen frivoler Missachtung staatlicher Hoheit o. s. ä. …

An der deutsch-dänischen Grenze stehen nun plötzlich wieder dänische Polizisten, die einen deutschen Kombi-VW mit blonden Insassen zwar sowieso durchwinken, aber trotzdem recht deutlich zeigen, wie die Zukunft aussieht, womit ein guter Einstieg ins Thema «Velofahren in die Schweizer Verfassung?» gefunden wäre; denn die Schweiz ist veloverkehrspolitisch ein «Entwicklungsland» («tagesanzeiger.ch»), was das Veloland Dänemark nicht nur bei der Einreisepraxis zum Vorbildstaat macht. «Überhaupt sollte man von den nordischen Velopendlern lernen», fand die NZZ. «Sie zeichnen sich durch grosse Gelassenheit aus, pedalen zügig, aber frei von Hektik zur Arbeit. Sie reden auch nicht gross darüber, es ist nur eine Fortbewegungsart.» Denn beim Lifestyle fängt das Unglück freilich an, ob im unterschichtsfreien Bioladen oder auf der Fixie-fixierten Strasse: «Viele Velofahrer fühlen sich auch moralisch überlegen. Sie leisten einen Beitrag für die Umwelt, verzichten dafür auf den Luxus eines Autos, sie trotzen Regen und Schnee. Und weil sie das tun, glauben sie, sich im Gegenzug über Regeln hinwegsetzen zu dürfen. Aus ihrer Sicht ist es ein Deal mit dem Rest der Gesellschaft: Wir retten die Welt, dafür können wir bei Rot über die Kreuzung fahren.»

Weshalb mich ein reichsdeutscher Velopilot mal vom Fussweg klingelte, den er gegen die Fahrtrichtung befuhr, um zehn Meter später abzusteigen, weil er nämlich angekommen war.

Da ich Rad und Auto fahre, weiss ich, dass die Linie rücksichtslos/rücksichtsvoll durchaus nicht entlang, sondern selbstverständlich quer zur Grenze Auto/Velo verläuft, und so der zeitgenössische Mensch nun einmal dazu neigt, ein egomaner Irrer zu sein, ist ers auf dem Fortbewegungsmittel seiner Wahl nicht minder. Gut möglich, dass der skandinavische Alltag (wie auch der fahrradlastige holländische) seine sozialdemokratische Prägung nicht loswird, allen Rechtsrucken zum Trotz.

Ob das Velo, neben «dem Fussverkehr und dem Wandern» (Bundesrat), nun in der Verfassung steht oder nöd, scheint mir aber auch keine der erheblicheren Menschheitsfragen zu sein, wie man es überhaupt bedenklich finden mag, dass man den Leuten nun wirklich jede Selbstverständlichkeit irgendwo hin- und hinter die Ohren schreiben muss (Keine Pommes im Öffi! Mehr Radwege!). Und wenn es so ist, dass Armleuchter mit Moralpachtvertrag sogar die schlimmeren sind, müsst ich ja sogar dagegen sein.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.