Popmusik: «Alles okay, Angel?»

Nr. 35 –

Sie gehört zu den besten SongschreiberInnen ihrer Generation: Angel Olsen ist mit einem grandiosen Album zurück. Ihre Stimme klingt gleichzeitig gegenwärtig und antik, und auf der Bühne hypnotisiert sie mit authentisch gespieltem Leiden.

Mit brachialem Urschrei in die Eigenständigkeit: Angel Olsen.

Ein Popalbum ist eine Momentaufnahme. Während es um deine Aufmerksamkeit bettelt, kannst du es ignorieren, gleich wieder vergessen, lieben lernen oder verachten. Während du dich entwickelst, lernt es nichts dazu – es bleibt die immer gleiche Platte. Doch es gibt Alben, die werden nicht alt. Das neue Album «My Woman» der 29-jährigen Angel Olsen hat alles, um eine solche Platte zu werden.

Lernen von Bonnie «Prince» Billy

Mit drei Jahren kommt Angel Olsen in eine Pflegefamilie ins US-amerikanische St. Louis. Tagsüber hört sie sich dort durch die Rock-’n’-Roll- und Countryplattensammlung der Pflegeeltern, nachts probiert sie ihre Stimme aus. Damit weckt sie neben den Eltern Dutzende andere Pflegekinder, die unter demselben Dach wohnen. Als Teenie imitiert Olsen mit ihren Freundinnen R-’n’-B-Girlgroups. Sie nimmt Songs von Mariah Carey, Whitney Houston und Destiny’s Child auf. Doch dann, so erzählt sie dem Musikmagazin «Spin», sei «ein Schalter gekippt worden: Ich wurde still und introvertiert.» Sie lernt Klavier und Gitarre, schreibt eigene Songs und geht an Punk-, Noise- und christliche Rockkonzerte. Gleichzeitig ist sie fasziniert von der theatralen Stimme Björks. Die Platten der Pflegeeltern, die R-’n’-B-Girlgroup und Björks Bühnenperformances – das sind Fährten in Olsens heutige Songs.

Kurz vor zwanzig zieht Olsen nach Chicago und beginnt, in Galerien und selbstverwalteten Clubs zu spielen; auch den Song «Creator, Destroyer», eine zerbrechlich-wütende und jodelnde Abrechnung mit einem Exfreund. Der Song erscheint 2010 mit einer Handvoll anderen auf dem erst nur als Kassette veröffentlichten Album «Strange Cacti». Mit 22 Jahren zeigt Olsen hier ihr aussergewöhnliches Talent, gleichzeitig gegenwärtig und antik zu klingen. Ihre magnetisierende Stimme zieht auch den gottvergessenen Prediger der Popmusik, Bonnie «Prince» Billy, an. Sie begleitet ihn auf Tourneen und singt als Backgroundsängerin auf den Alben «Wolfroy Goes to Town» und «Now Here’s My Plan». Über die Zusammenarbeit wird Olsen später zu «Spin» sagen: «Es war auf verschiedenen Ebenen unangenehm mit ihm. Wir arbeiteten ziemlich intim zusammen, aber gleichzeitig blieb er sehr distanziert.» Olsen nimmt wahr, wie Billy JournalistInnen ausweicht, wie er die ZuschauerInnen hypnotisiert und wie er mit ihr interagiert – ein Rollenspiel, das sie auch auf ihre eigene Arbeit anzuwenden beginnt.

Fortan betrachtet Olsen ihre Auftritte als eine Form von Theater: «Jedes Mal versuche ich, so zu tun, als würde ich die Songs zum ersten Mal erleben. Es ist wie eine Szene in einem Film, und ich bin Teil davon.» Als wäre es eine Art Method-Acting, speist Olsen ihre Songs aus dem eigenen Leben, doch auf der Bühne tut sie, als spiele sie sie zum ersten Mal. Ihrer Performance verleiht sie damit Authentizität, ohne sich narzisstisch zu entblössen. Das wirkt: Wiederholt sollen nach Konzerten ZuschauerInnen zu ihr gekommen sein, um zu fragen: «Ist alles okay, Angel?»

Hingeworfene Zeitdiagnostik

Ende 2012 folgt ihr Debütalbum «Half Way Home», mit dem sie Billy’s Backgroundsängerin endgültig hinter sich lässt. Wie als Kommentar dazu singt sie auf dem fabulösen Schlussstück «Safe in the Womb»: «We can be anything if we know anything at all.» Es ist ein zurückhaltend instrumentiertes Folkalbum, dessen Raum Olsens vibrierende, trillernde und zerbrechliche Stimme einnimmt.

2014 folgt «Burn Your Fire for No Witness», über das sie später sagen wird: «Es ist etwas kindisch, aber ich habe genau das bekommen, was ich wollte.» Zum ersten Mal nimmt Olsen Stücke mit einer Band auf, und das Album wird eine zähne fletschende Strassenmischung aus Punk, Folk und Country. Ihre Stimme ist durch eine Vielzahl unterschiedlich scheppernder Mikrofone verzerrt. Es ist der brachiale Urschrei einer radikalen Eigenständigkeit. Nun folgt «My Woman». Darin zitiert sie gegenwärtige und vergangene Entwicklungen der Popmusik und macht daraus etwas Eigenes. So ist da zum Beispiel das schwelgerisch-leichtfüssige «Woman», ein Song, den man der Band Destroyer auf ihrer letzten, eher dekorativen Platte gerne gegönnt hätte.

In «Pops» hingegen klingt Olsen zu einem melancholisch-schweren Klavier wie die frühe Cat Power und könnte leicht deren frei gewordenen Platz einnehmen. Hinzu kommt scheinbar hingeworfene Zeitdiagnostik. So heisst es in «Intern» («Praktikant): «Doesn’t matter who you are or what you’ve done, still gotta wake up and be someone» (etwa: Es ist egal, wer du bist oder was tu tust, du musst dennoch aufwachen und etwas werden). Selten hat jemand den individualistischen Selbstoptimierungswahn der Generation Praktikum bestechender auf den Punkt gebracht. Nicht zuletzt sind da Songs, die nach einmaligem Hören nicht mehr aus dem Kopf gehen. «Shut Up Kiss Me» ist nur einer davon und dabei gleichzeitig ein sterbenscooler, verletzlicher und schmettriger Lovesong. Während Angel Olsen mit uns altern wird, wird «My Woman» vielleicht ewig jung bleiben.

Angel Olsen spielt am Donnerstag, 27. Oktober 2016, um 21 Uhr im Bogen F in Zürich. www.bogenf.ch

Angel Olsen: My Woman. Jagjaguwar/Irascible