Kino-Film «Tschick»: Mit Tiefkühlpizzen in die Walachei

Nr. 36 –

Ein wuchtiges Roadmovie: Fatih Akin trifft in seiner Verfilmung des Romans «Tschick» den unverwechselbaren Ton des Buchs.

Mit «Ballade pour Adeline» durch den Nebel: Maik (Tristan Göbel) und Tschick (Anand Batbileg). Still: Reiner Bajo, Lago Film GmbH / Studiocanal Film GmbH

Es war der beste Sommer von Maik Klingenbergs Leben. Der Sommer, als er mit Tschick, dem «russischen Asi», in einem geklauten hellblauen Lada Niva von zu Hause abhaute und durch die ländliche Umgebung Berlins kurvte. Es war ein Sommer voller Abenteuer, der nach Freiheit und Freundschaft roch.

Der Roman «Tschick» von Wolfgang Herrndorf wurde kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 2010 zu einem Riesenerfolg. Es war Herrndorfs drittes Werk, und das Buch über die Abenteuerfahrt der beiden unterschiedlichen vierzehnjährigen Jungs begeisterte Kritikerinnen wie Leser und machte den 45-jährigen Autor berühmt. Nur drei Jahre später war Herrndorf tot. Er hatte seinem Leben selber ein Ende gesetzt, bevor der Krebs ihm zuvorkam: In seinem Hirn wucherte ein bösartiger Tumor.

Keine Einladung an die Party

Nun, drei Jahre nach Herrndorfs Tod, kommt «Tschick» auf die Leinwand. Der Regisseur Fatih Akin («Gegen die Wand», «The Cut») wagte sich an diesen grossartigen Teenager-Roman, der unter anderem durch seinen unverkennbaren Plauderton besticht. Denn Herrndorf lässt die ganze Geschichte von Maik selber erzählen. Dieser liegt nach einem Unfall auf der Autobahn im Spital und berichtet in vorwärtstreibender und ungeheuer witziger Teeniesprache von seinen Erlebnissen.

Wie das Buch beginnt auch der Film fast am Ende der Geschichte, und wir hören Maiks Stimme aus dem Off. Die übernimmt Stellen aus dem Buch praktisch unverändert, und so, wie Tristan Göbel diese Erzählstimme spricht, meint man tatsächlich, Maik aus dem Buch zu hören. Überhaupt hat Akin beide Hauptrollen perfekt besetzt: Göbel als wohlstandsvernachlässigter Maik und Anand Batbileg als asozialer, hochbegabter und draufgängerischer deutsch-russischer Tschick bilden ein Duo, dem man gerne noch viel länger zuschauen würde. Süss der eine, mit seinen schulterlangen, braunen Haaren, leichtem Oberlippenflaum und schön gebügelten Hemden, cool abgefuckt der andere, mit leichter Irokesenfrisur, schlabbriger Turnhose und blauem Hawaiihemd mit Palmen drauf. Wie sie die irren Dialoge aus dem Buch wiedergeben, ist schlicht grossartig.

Schuld an allem ist ja eigentlich Tatjana, «das schönste Mädchen der Welt». Denn nur etwas verbindet Maik mit dem neuen Mitschüler Tschick, den er eigentlich von Anfang an nicht leiden konnte und der manchmal so besoffen in die Schule kommt, dass er auch mal anderen Schülern über die Schulbank kotzt: Beide sind sie nicht zu Tatjanas Geburtstagsparty eingeladen. So hängt Maik in den Sommerferien alleine in der Villa seiner Eltern ab – die Mutter ist in einer Entzugsklinik, der Vater mit seiner Assistentin auf «Geschäftsreise». Gelangweilt badet Maik im Pool und spritzt mit dem Gartenschlauch rum, als plötzlich Tschick, dessen tatsächlichen Namen, Andrej Tschichatschow, niemand aussprechen kann, mit einem blauen Lada vorfährt. Nach einem kurzen Auftritt an Tatjanas Party, an der Maik ihr eine Porträtzeichnung übergibt, an der er wochenlang gearbeitet hat, und Tschick durch eine 180-Grad-Drehung des Ladas die ganze Geburtstagsgesellschaft mit offenen Mündern stehen lässt, machen sich die beiden auf. Das Reiseziel: die Walachei. Im Gepäck: ein paar Konservendosen, tiefgefrorene Pizzen und eine Kassette von Richard Clayderman. Begleitet von der «Ballade pour Adeline» kurven sie durch den Nebel, diese zwei Kerle, die gerne wild wären und doch von dieser kitschigen Klaviermusik so berührt sind, dass die Kassette sie die ganze Reise über begleiten wird.

Akin lässt die Kamera über die flache Landschaft fliegen, unten der hellblaue Lada, der durch knallgrüne Wiesen und gelbe Stoppelfelder kurvt. Die Bilder wirken überbelichtet – es ist ein heisser Sommer, der blendet und in dem man sich verliert. Neben den einnehmenden Bildern überzeugt in dem wuchtigen Roadmovie auch der Soundtrack: Bei der Flucht vor der Polizei steuert Tschick den Lada durch den Wald, dazu singt Henning May: «Und wir singen im Atomschutzbunker; Hurra, diese Welt geht unter.»

Herrndorf hätt’s gemocht

Natürlich vermisst man den Auftritt des schiessenden Kommunisten Horst Fricke oder der übergewichtigen Sprachtherapeutin aus dem Buch. Doch da Akin den Ton des Romans so gut trifft, verzeiht man ihm die für den Spielfilm notwendige Reduktion der vielen Begegnungen, die die Jungs im Buch haben. Auch dass er sonst einiges inhaltlich abgeändert hat – so lässt er zum Beispiel das fast schon romantische Ende des Buchs einfach weg und verpflanzt den schönsten Dialog in eine völlig andere Umgebung –, nimmt man ihm nicht übel. Da sitzen die beiden Jungs auf einer Holzbrücke inmitten eines Moors. Maik hat soeben Tschicks verletzten Fuss verbunden, da gesteht Tschick ihm, dass er sich nicht für Mädchen interessiere. Maiks Kommentar aus dem Off: «Man kann jetzt denken von mir, was man will – aber ich war nicht wahnsinnig überrascht. Ich dachte einen Moment darüber nach, auch schwul zu werden. Das wäre jetzt wirklich die Lösung aller Probleme gewesen. Aber ich schaffte es nicht. Ich mochte Tschick wahnsinnig gerne, aber ich mochte Mädchen irgendwie lieber.»

Herrndorf hätte den Film wohl gemocht. Denn zu Literaturverfilmungen hatte er eine klare Meinung: Die Regisseure müssten sich möglichst frei machen von den Romanvorlagen.

Ab 15. September 2016 in den Kinos.

Tschick. Regie: Fatih Akin. Deutschland 2016