Im Affekt: Zwangsouting unter Getöse

Nr. 40 –

Wer Literatur studiert, lernt, dass der Autor, die Autorin tot ist. Das ist nicht wörtlich zu nehmen. Es bedeutet bloss, dass er oder sie uns beim Interpretieren der Werke nicht zu interessieren hat. Man mag das verstiegen finden, aber eigentlich ist es eine wohltuende Intervention. Endlich kann man über die Bücher reden, ohne sich in biografischen Details von zweifelhafter Herkunft und Relevanz zu verlieren. Sogar die AutorInnen geben ja gern zu, dass sie ihre Texte für klüger halten als sich selbst. Richtig durchgesetzt hat sich die Haltung trotzdem nicht. Personenkult ist halt einfacher, als sich mit Literatur zu beschäftigen.

Der letzte abstossende Beweis dafür ist die Jagd auf die Bestsellerautorin Elena Ferrante. Unter diesem Pseudonym hat eine unbekannte Italienerin zuletzt einen vierteiligen Romanzyklus geschaffen, die «neapolitanische Saga», über eine Frauenfreundschaft während der Nachkriegszeit. Die Bücher geben auf der halben Welt zu reden, kürzlich erschien der erste Band auch auf Deutsch.

Bis jetzt schien es den zahlreichen LeserInnen nichts auszumachen, dass sie das Gesicht hinter den Büchern nicht kannten. Nun will ein italienischer «Investigativjournalist» herausgefunden haben, wer hinter Ferrante steckt: angeblich eine Übersetzerin mit deutschen Vorfahren.

Unter mächtigem Getöse wurden die Recherchen weltweit gleichzeitig in mehreren Publikationen veröffentlicht. Aufgrund verdächtiger Kontobewegungen sei Ferrante dekuvriert worden. Diese hatte ihrerseits bereits vor dem Outing angekündigt, dass sie aufhören werde zu schreiben, wenn sie enttarnt werde. Fragt sich also ernsthaft, wem die grosse Enthüllungsaktion letztlich dienen soll.

Ach, hätte der Journalist seine Energien und Geldflussrecherchen doch dazu verwendet, Leuten auf die Schliche zu kommen, die es wirklich verdient haben, ans Licht der Öffentlichkeit und zur Rechenschaft gezerrt zu werden. Uns würden da spontan zwei, drei KandidatInnen einfallen.

Und wie rechtfertigt sich der Enthüllungsjournalist? Der Erfolg von Ferrantes Büchern habe das Aufspüren ihrer wahren Identität «praktisch unausweichlich» gemacht.