TV-Serie «The Night Of»: Ein Fall wie ein blutig gekratzter Fuss

Nr. 40 –

Eine viel gelobte neue Serie aus den USA dreht sich um einen nur scheinbar klaren Mordfall. Statt zum Täter führen die Ermittlungen in den alltäglichen Albtraum eines ausgelaugten Justizapparats.

Zerknitterter Anwalt auf juristischer wie medizinischer Odyssee: John Stone, ausgezeichnet gespielt von John Turturro. Still: HBO

Auf Ekstase folgt Strafe. In den billigen Krimis, mit denen die US-Unterhaltungsindustrie die TV-Bildschirme dieser Welt überschwemmt, werden Opfer meist mitschuldig gemacht. Moralisch mitschuldig. Die AutorInnen von «Law & Order», «CSI» und Konsorten lassen den Morden auffällig oft Ausschweifungen – Sex, Partys, Alkohol, andere Drogenexzesse – vorausgehen, als wollten sie jedem Artikel aus ihrer Massenproduktion einen kleinen puritanischen Stempel aufdrücken.

Einen solchen Stempel trägt auch die erste Folge des achtteiligen neuen Justizdramas «The Night Of» des Bezahlsenders HBO, der uns schon die Klassiker «The Sopranos» und «The Wire» beschert hat. Aber diese puritanische Markierung von «The Night Of» ist, wie fast alles in dieser melancholischen Serie, schlauer und selbstbewusster gesetzt, als man das von der massenhaften kriminologischen Feierabendbetäubung vor dem Fernseher sonst so gewohnt ist.

Das fängt damit an, dass der Fall von Beginn weg bestürzend klar scheint. Klar für das Publikum – und klar für den ermittelnden Polizeiapparat. Wir meinen zu wissen, dass Naz (Riz Ahmed) unschuldig ist. Die Justiz geht aber vom Gegenteil aus. Wer verwirrt, berauscht und mit einem blutigen Messer in der Jackentasche nur wenige Strassen von einer toten Frau entfernt aufgegriffen wird, mit der er die Nacht verbracht hat, darf erst mal nicht mit viel Verständnis der ermittelnden PolizistInnen rechnen. Diese Spannung zwischen unserer instinktiven Unschuldsvermutung und der Schuldgewissheit der ErmittlerInnen macht den oberflächlichen Reiz von «The Night Of» aus. Kann die ersehnte Gerechtigkeit in die Justiz zurückgeholt werden, wenigstens in der Fiktion?

Routiniert rassistisch

Komplexer und heilloser aber noch als diese alte Frage ist die Durchleuchtung eines scheinbar zu Tode erschöpften US-Justizsystems. Dessen altbekannte rassistische Voreingenommenheit hat nach dem 11. September 2001 und seinen Ausnahmegesetzen noch eine weitere Bevölkerungsgruppe ins Verdachtsvisier genommen: die MuslimInnen. Die kaum religiöse, aber sofort klar als muslimisch identifizierte pakistanische Familie des Hauptverdächtigen Naz ist geprägt von Scham, Sittenstrenge, Armut und harter Arbeit, was «The Night Of» subtil und knapp nachzeichnet. Ihre zentrale Anstrengung, in der neuen Heimat nur ja nicht aufzufallen, wird mit einem Schlag zunichtegemacht, als der älteste Sohn nach einer verbotenen nächtlichen Spritzfahrt mit Vaters Taxi – was für die Familie im Normalfall bereits ein schlimmes Vergehen wäre – des Mordes beschuldigt wird.

Der Ermittlungs-, Verteidigungs- und Gefängnisapparat wiederum, mit dem die Familie sich nun konfrontiert sieht, erscheint als eine albtraumhafte Mischung aus Zynismus, Geldgier, Misstrauen, Ermüdung, unerwartetem Engagement – und Gleichgültigkeit. Schon nach wenigen Wochen im brutal verrohten und korrupten Knastalltag hat sich der rehäugige, scheue Naz zumindest äusserlich in jenen kaltblütigen Verbrecher verwandelt, den die Strafverfolgungsbehörde sowieso in ihm sehen will. Der leitende Ermittler steht kurz vor der Pensionierung, und auch die Staatsanwältin hat schon zu viele Gerichtsprozesse abgespult, um sich von einem scheinbar klaren Fall noch aus der Routine werfen zu lassen.

Überhaupt die Routine: Sie schleift Indizien und Zeugenaussagen zurecht und ignoriert Spuren, anhand derer sich vielleicht ein anderer Tatverlauf aufzeigen liesse. Gäbe es da nicht den Anwalt John Stone (John Turturro), der in einer nächtlichen Polizeiwache zufällig auf den Fall aufmerksam wird, würde Naz auf direktem Weg lebenslang im Kerker landen. Stone bietet seine Dienste als Verteidiger an und profitiert dabei davon, dass ihn niemand ernst nimmt, weil er für gewöhnlich Kleinkriminelle und Prostituierte vertritt und sich seinen Lohn auch mal in Naturalien auszahlen lässt.

Der Zufall hilft

Es braucht schon einen Schauspieler von Turturros Format, um diesen zerknitterten Anwalt glaubhaft und mit stoischer Würde in der U-Bahn unter der dämlichen Leuchtreklame für seine eigene Anwaltspraxis stehen zu lassen. Oder um im Vorzimmer des Gerichts seine von Ekzemen geplagten Füsse in Sandalen mit einem Essstäbchen blutig zu kratzen. Stones verzweifelte medizinische Odyssee wegen seiner wunden Füsse wird in «The Night Of» zum Sinnbild für den ganzen Mordprozess – und für die prekäre Hoffnung des Angeklagten auf Wahrheit und Gerechtigkeit in seinem schier aussichtslosen Fall.

Drehbuchautor Richard Price, der in der Serie «The Wire» der Drogenhochburg Baltimore ein ebenso verzweifeltes wie liebevolles Denkmal gesetzt hat, tut in «The Night Of» dasselbe mit dem abgeschabten Charme New Yorks. Auch die puritanische Signatur des Anfangs durchkreuzen er und die allesamt ausgezeichneten SchauspielerInnen mühelos: Der gemeine Zufall ist viel entscheidender als jede moralschwere christliche Vorsehung. Und dass schliesslich doch noch alle JustizarbeiterInnen nach John Stones Vorbild einen Rest Berufsstolz in sich wachkratzen, lässt das Ende der Geschichte paradoxerweise fast düsterer erscheinen, als es wohl ursprünglich beabsichtigt war.