Kommentar von Bettina Dyttrich: Nationalpark statt alpine Brachen

Nr. 46 –

Grenzen um «die Natur» ziehen: Die Idee des Nationalparks ist fragwürdig. Trotzdem verdient der geplante Parc Adula eine Chance.

Grösser als der Kanton Uri soll er werden: der zweite Nationalpark der Schweiz. Am 27. November stimmen siebzehn Bündner und Tessiner Gemeinden ab, ob sie den Parc Adula wollen. Endlich ein zweites Gebiet neben dem Nationalpark im Engadin, in dem die «freie Entwicklung der Natur oberstes Ziel ist». Endlich wieder ein Fortschritt für den Umweltschutz? Endlich?

1872 wurde das Yellowstone-Gebiet im Westen der USA zum ersten Nationalpark der Welt erklärt. So unberührt, wie seine Promotoren glauben wollten, war er allerdings nicht – er war vielmehr eine indianische Kulturlandschaft, deren letzte BewohnerInnen erst nach der Parkgründung vertrieben wurden. Bald liessen sich auch europäische Naturschutzpatrioten von der Idee anstecken: Schon 1914 entstand der Schweizer Nationalpark. Doch die Idee eines Gebiets, das Menschen nur anschauen dürfen, war in den seit Jahrtausenden intensiv genutzten Alpen noch seltsamer als in den Rocky Mountains.

Das gilt auch für die Kernzone des Parc Adula. Das «Natürliche» soll hinter klar definierten Grenzen freie Bahn haben – falls das Wild aber den Wald zu stark verbeisst, ist die Jagd dann doch erlaubt. Es gibt wohl kaum einen künstlicheren Raum in den Alpen als eine Nationalpark-Kernzone.

Naturschutzorganisationen haben der Parkträgerschaft immer wieder vorgeworfen, sie gehe zu viele Kompromisse ein: «Ein Nationalpark, von dem die Natur wenig hat», titelte der «Tages-Anzeiger» 2013. Die Natur liegt in dieser Definition ausserhalb der Menschen, steht im Gegensatz zur Kultur. Eine Idee, die – wie die Idee des Nationalparks – erst in der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft aufkommen konnte: die Natur als Gegenwelt zum Alltag, in der wir uns erholen. Bäuerliche Kulturen nehmen die Natur völlig anders wahr. Oft wird das Wort gar nicht gebraucht, denn Natur ist alles – die Lawine genauso wie die Kuh im Stall. In der genutzten Landschaft sind Natur und Kultur untrennbar miteinander verwoben, auch noch auf der wildesten Alp. Die bäuerliche Nutzung hat die Artenvielfalt in den Alpen jahrhundertelang gefördert: Ohne sie wären die Alpen bis hoch hinauf mit dichtem Wald bedeckt, und viele Arten, etwa Orchideen auf Heuwiesen oder bodenbrütende Vögel, hätten keinen Platz. Diese angepasste Nutzung zu erhalten, ist heute die grosse Herausforderung. Die «Wildnis» kommt hingegen von selber, das sieht man im Piemont.

Der Vorwurf von Parc-Adula-GegnerInnen, der Park sei eine Alibiübung, ist nicht falsch: Statt zu versuchen, die Wirtschaft als ganze naturverträglich zu machen, richten wir Schutzzonen ein und zerstören daneben weiter wie bisher. Die Parkcharta, die von «Branding» und «Lifestyle-Segmenten» spricht und «Natur- und Kulturgüter buch- und erlebbar machen» will, erweckt auch nicht gerade Vertrauen.

Also Nein zum Parc Adula? Das wäre zu einfach. Auch wenn die Nationalparkidee fragwürdig ist: Der Parc Adula als Ganzes ist ein gutes Projekt. Vor allem weil nur elf Prozent der Fläche zur streng reglementierten Kernzone gehören. Im grossen Rest des Gebiets soll eine naturverträgliche Wirtschaftsentwicklung im Vordergrund stehen. Das ist eine Chance für Restaurants, die lokale Biospezialitäten servieren, Handwerksbetriebe, die mit Holz aus der Region ökologisch renovieren, und für vieles mehr.

Was der Parc Adula bereits in der Projektphase gefördert hat – Landschaftspflege, Agrotourismus, einen neuen Greina-Trekkingweg, Solarzellen auf Berghütten, aber auch Langlauf und Theater –, geht in die richtige Richtung. Es ist sicher sinnvoller als andere Ideen für die Alpen: Resort-Gigantismus wie in Andermatt oder die grossflächige Verwilderung, wie sie manche Neoliberale fordern. Lieber ein Nationalpark als «alpine Brachen», aus denen die Menschen verschwinden sollen, weil die Infrastruktur zu viel koste. Da ist es auch zu verkraften, dass man in der Kernzone nicht mehr vom Weg wegdarf.