Ohad Talmor: Die Jazzutopie in der ehemaligen Bäckerei

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Der Genfer Jazzmusiker Ohad Talmor lebt seit zwanzig Jahren in New York. In Brooklyn betreibt er einen Konzertraum, der auch ein Szenetreffpunkt ist. Am «Unerhört!»-Festival ist der Saxofonist in der Schweiz zu sehen.

Will unterschiedliche Traditionen auf neue Art verknüpfen: Jazzsaxofonist Ohad Talmor. Foto: Philippe Marchin

Prospect Park heisst ein Viertel im New Yorker Stadtteil Brooklyn, das in letzter Zeit erheblich an Attraktivität gewonnen hat. Die Strassen säumen vier- und fünfgeschossige Gebäude mit kleinen Läden, Cafés, Sandwich- und Burgerbars – ob vegan, koreanisch oder karibisch. Das macht das Viertel für junge Selbstständige, kreative FreiberuflerInnen und Bohemiens zu einem Anziehungspunkt. Auch viele MusikerInnen leben hier. Sie sind in den letzten zwanzig Jahren wegen der unbezahlbaren Mieten aus ihrer ehemaligen Hochburg in Downtown Manhattan abgewandert und haben in Brooklyn zur Entstehung einer lebendigen Szene beigetragen. Vor allem kreativer Jazz steht hoch im Kurs.

Einer der «mover and shaker» der Brooklyner Jazz-Community ist der Schweizer Ohad Talmor. Der 1970 geborene Tenorsaxofonist, Komponist und Arrangeur stammt aus einer jüdisch-israelischen Familie, ist in Frankreich geboren und in Genf aufgewachsen.

Mit dem Geld einer Erbschaft kaufte er eine Haushälfte an der Vanderbilt Avenue, wo er heute mit Frau und Kindern lebt und noch andere Musiker wohnen. Im Parterre hat er den Konzertraum Seeds eingerichtet, der zu einem Fixpunkt der Brooklyner Jazzszene geworden ist. «Früher war das eine Bäckerei. Deshalb ist der Raum so hoch – ideal für Konzerte», schwärmt er. «Ich bin immer noch ein linker Hardcore-Kibbutznik, getrieben von der Utopie einer kreativen Künstlergemeinschaft. Dazu soll das ‹Seeds› beitragen. Es steht Musikern für Aufführungen zur Verfügung.»

Ohne kommerziellen Druck

Das Programm ist keiner bestimmten Musikrichtung verpflichtet, sondern vielfältiger Art: Natürlich bildet der moderne Jazz einen Schwerpunkt, aber auch radikale Improvisation, klassische indische Musik oder avantgardistische E-Musik sind vertreten. Dazu gibt es Filmvorführungen. Wichtig ist Talmor, dass das Lokal die Möglichkeit bietet, neue Projekte und innovative Ideen ohne kommerziellen Druck auszuprobieren, nicht nur in einzelnen Konzerten, sondern in sogenannten «residencies» an fünf Abenden in Folge. «Musiker brauchen solche Laboratorien, wo sie experimentieren und ihre Konzepte vor Livepublikum testen können. Das ist notwenig, um Musik weiterzuentwickeln», erklärt er. «Solche Orte sind in New York in den letzten Jahren immer spärlicher geworden. Da wollte ich Abhilfe schaffen.»

Tagsüber wird der Konzertraum gelegentlich für Workshops oder Masterclasses genutzt und auch für Bandproben. Wenn ein Auftritt, eine Tour oder eine Platteneinspielung ansteht, ruft Talmor seine eigenen Gruppen hier zusammen, deren Spektrum vom Trio (mit Steve Swallow und Adam Nussbaum) bis zum Jazzorchester reicht. Manche seiner Partituren nehmen Bezug auf klassische Komponisten wie Anton Bruckner, Frédéric Chopin und György Ligeti, worin sich Talmors musikalischer Werdegang spiegelt: Zuerst erhielt er eine klassische Ausbildung am Klavier und in Komposition von der Pianovirtuosin Martha Argerich, bevor er sich mit achtzehn Jahren dem Saxofon und dem Jazz zuwandte. Damals nahm der Cooljazz-Saxofonist Lee Konitz das Talent unter seine Fittiche, woraus sich eine lange, fruchtbare Zusammenarbeit ergab. «Mein grosses Ensemble ist ein Werkzeug zur Erkundung», unterstreicht Talmor sein Credo. «Es verknüpft divergierende Traditionen auf neue Art. Es geht darum, Elemente von Komposition und Improvisation auf komplexe Weise zu verbinden.»

Garküche des Jazz

Ein Albtraum ist es, für eine solche Big Band überhaupt Auftrittsmöglichkeiten zu finden. Kaum eine Institution ist dazu finanziell noch in der Lage. «Ich muss wohl meine linke Niere verkaufen, um ein paar Gigs zu ermöglichen», nimmts der Bandleader mit schwarzem Humor. Das «Unerhört!»-Festival bietet Ohad Talmor nun ein Forum. Dreieinhalb Tage lang wird er mit JazzstudentInnen der Musikhochschule Luzern ein paar seiner grossorchestralen Werke einstudieren, um sie dann am Montag, dem 21. November, in der Zürcher Schlosserei Nenniger vorzustellen. Im Duo mit Schlagzeuger Dan Weiss eröffnet er den Abend. Es ist nicht die einzige Kostprobe aus der Brooklyner Garküche des Jazz, die das diesjährige «Unerhört!» zu bieten hat.

Bestechend reichhaltig

Vom Grossformat zum Solo, vom Newcomer zum Star, von Ethnojazz zur Avantgarde: Eine breite Vielfalt zeichnet das Programm des Zürcher «Unerhört!»-Festivals 2016 aus. Dessen Auftakt vom 19. November findet allerdings in Winterthur statt. Ein paar Namen stechen heraus: Der Pianist von The Bad Plus, Ethan Iverson, wird im Duo mit dem Saxofonisten Mark Turner auftreten – eine Europapremiere!

Dabei ist Turner nicht der einzige Saxofonkoloss des Festivals. Etliche weitere bedeutende Namen aus der internationalen Saxofonszene sind vertreten: von Tim Berne und Ellery Eskelin über Tobias Delius bis zu den Schweizern Omri Ziegele und Jürg Wickihalder. Sie alle werden das Blasinstrument, das gerade seinen 170. Geburtstag feiert und zum Emblem des Jazz geworden ist, in vielseitiger Weise zum Klingen bringen.

www.unerhoert.ch