Klima: Die Welt ist mittendrin

Nr. 36 –

Vor 25 Jahren beschloss die Uno, eine «gefährliche Störung des Klimasystems» abwenden zu wollen. Diese ist inzwischen längst Realität.

Im Juli publizierte das «New York Magazine» unter dem Titel «Die unbewohnbare Erde» einen Text, der weltweit grosse Beachtung fand und einem Schauer über den Rücken jagte, selbst wenn man sich schon lange intensiv mit dem Thema beschäftigt. Dabei fasste er lediglich den Stand des Wissens zusammen: Das Klima soll sich um deutlich weniger als 2 und – wenn möglich – um höchstens 1,5 Grad erwärmen. So hat es die Uno im Dezember 2015 in Paris beschlossen. Als es zuletzt 2 Grad wärmer war, sagt Michael Oppenheimer, ein Pionier der Klimaforschung, im Interview mit dem Magazin, habe der Meeresspiegel sechs bis neun Meter höher gelegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Erwärmung auf 2 Grad begrenzt werden könne, habe er vor Trumps Wahl zum US-Präsidenten auf zwanzig Prozent geschätzt; nun schätze er sie auf zehn.

Über Trumps Entscheid, das Abkommen von Paris aufzukündigen, haben viele RegierungschefInnen geschimpft. Doch bis heute zeigt keine Regierung eines grösseren Landes Anzeichen dafür, ernst zu nehmen, ja nur verstanden zu haben, was sie in Paris mit ausgehandelt hat. Und so könnte die Erderwärmung bis Ende des Jahrhunderts denn eher 3, 4 oder 5 Grad erreichen. Als sich das Klima zuletzt um 5 Grad erwärmte, vor 252 Millionen Jahren, starben 90 bis 96 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten aus. Die Erwärmung ging damals viel langsamer vonstatten als heute.

Nur eine Dystopie?

Wie könnte man sich den Beginn eines solchen Zusammenbruchs vorstellen? Vielleicht so: Die Nachrichten von Extremwetterereignissen, so wie sie die Szenarien der Klimaforschung erwarten liessen, häuften sich. Es gäbe dabei drei Gruppen von Reaktionen: Die einen ignorierten die Zusammenhänge gegen jede Erfahrung. Die anderen diskutierten, ob das nun ganz sicher schon der Klimawandel sei – oder vielleicht doch noch nicht. Die Dritten würden fordern, es hätte etwas zu geschehen – kämen aber nicht auf die Idee, die Sache könnte einen Zusammenhang mit ihrem eigenen Verhalten haben.

So könnte die Dystopie aussehen; so sieht auch die Realität im Sommer 2017 aus. Im Bergell rutschen Millionen Kubikmeter Fels ins Tal. In Südindien fordert ein ungewöhnlich heftiger Monsun über tausend Todesopfer und macht Millionen obdachlos. Teile von Texas und Louisiana stehen unter Wasser, während bereits der nächste Hurrikan auf die Küste zurast. Aussergewöhnliche Regenfälle lösen in Westafrika und im Kongobecken Erdrutsche aus. Südfrankreich und das südliche Italien leiden unter aussergewöhnlicher Dürre, Waldbrände töten in Portugal mehrere Dutzend Menschen. In Grönland ist es warm wie in Mitteleuropa, und mehrere Quadratkilometer Torfböden brennen – ein Schulbuchbeispiel für einen selbstverstärkenden Rückkoppelungseffekt: Wegen zu vieler Treibhausgase in der Atmosphäre wird es wärmer, die Erwärmung lässt Böden und Vegetation austrocknen, Brände brechen aus – und setzen wiederum grosse Mengen Treibhausgase frei.

Und die Reaktionen? Eine Google-Suche am Montag dieser Woche ergab 88 Millionen Treffer für die Wortkombination «hurricane harvey», aber nur 2,8 Millionen für «hurricane harvey climate change». Der zuoberst angezeigte Treffer lautet: «Der Klimawandel ist nicht für Hurrikan Harvey verantwortlich».

Natürlich sind an jedem Grossereignis in der Natur zahlreiche Faktoren beteiligt, und natürlich hat es alles auch schon gegeben. Im Bergell begrub 1618 ein Bergsturz ein ganzes Dorf unter sich, am Golf von Mexiko gab es immer schon Hurrikane, und besonders heftige Monsune überschwemmten schon immer Dörfer. Aber der Klimawandel verstärkt Faktoren oder bringt überhaupt erst solche hervor, die sich in Zukunft noch weiter verschärfen werden.

Die Nordflanke des Piz Cengalo ist unter anderem deshalb instabil geworden, weil dauerhaft gefrorene Böden (Permafrost) auftauen und Gletscher, die den Fels stützen, schrumpfen. Man hat es kommen sehen: «Aufgrund des auftauenden Permafrosts ist vermehrt mit Murgängen und der Destabilisierung der Fundamente touristischer Infrastrukturen im Hochgebirge zu rechnen», warnt ein Bericht des Bundesamts für Umwelt aus dem Jahr 2012.

Hurrikan Harvey wurde nicht vom Klimawandel ausgelöst, aber seine verheerenden Folgen seien «sehr wahrscheinlich» mit dem Klimawandel zu erklären, schreibt das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung auf seiner Website. Und zu Südasien heisst es dort: «Computersimulationen haben diese Entwicklung vorhergesagt und erfahren nun eine traurige Bestätigung durch die gegenwärtigen verheerenden Niederschläge.» Man kann die Vorhersagen nachlesen, etwa im 2013 publizierten Bericht des Uno-Panels für den Klimawandel (IPCC): «Künftige Zunahmen der Niederschlagsextreme während des Monsuns in Ost-, Süd- und Südostasien sind sehr wahrscheinlich

Eine Macht- und Klassenfrage

Wir sind mittendrin, aber vor ein paar einfachen Wahrheiten verschliesst ein Grossteil der Weltöffentlichkeit noch die Augen: Die «gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems», die es laut des Klimawandel-Rahmenabkommens der Uno von 1992 zu verhindern gilt, ist nichts mehr, was in Zukunft droht. Der Klimawandel ist längst da, und er ist längst gefährlich – für viele Millionen Menschen. Es gibt kein Wetter mehr, das nichts mit dem Klimawandel zu tun hat. Wenn mehr Energie in der Atmosphäre liegt und die Luft- und Wassertemperaturen steigen, beeinflusst dies das Wetter selbstverständlich. Wärmere Luft kann mehr Feuchtigkeit aufnehmen, also können Stürme mehr Niederschläge bringen. Umweltschutz ist nicht, wie viele meinen, Nischenthema einiger NaturfreundInnen; es ist schon gar nicht ein Luxusanliegen der Reichen, die keine anderen Sorgen haben. Globale Umweltveränderungen interferieren mit allen anderen grossen Themen der Politik: Welternährung, Sicherheit, Migration, Krieg und Frieden, Energieversorgung, Verkehr, Handel, Technik.

Noch finden TV-Duelle mit den KandidatInnen für eines der wichtigsten politischen Ämter der Welt statt – wie vergangenen Sonntag in Deutschland –, in denen der Klimawandel kein Thema ist. Aber solche Debatten sind heute schon weit von der Realität entfernt. Menschen in Bangladesch können sich schlechter vor den Fluten schützen als Menschen in Texas, und auch bezüglich Texas liegt ziemlich daneben, wer wie die NZZ ein Bild von überschwemmten Villen mit der Bildlegende «In Houston traf es Arm und Reich gleichermassen» versieht.

Der Klimawandel ist eine Macht- und Klassenfrage, und reiche Länder wie die Schweiz sind völkerrechtlich verpflichtet, ärmere Länder dabei zu unterstützen, mit künftigen Naturkatastrophen umzugehen. Der CO2-Ausstoss muss nicht einfach sinken. Er muss ganz weg, und das heisst: Es dürfen kein Erdöl, kein Erdgas und keine Kohle mehr verbrannt werden – je schneller, desto besser. Das steht zwar im Abkommen von Paris, aber die Regierungen versuchen immer noch – wenn überhaupt –, die Emissionen um einen gewissen Prozentsatz zu senken. Emissionen senken ist mit «grüner Technik» möglich; ein Ausstieg aus der Nutzung des wichtigsten Rohstoffs der Wachstumswirtschaft ist ohne grundlegende Umstrukturierungen der gegenwärtigen Produktions- und Distributionsstrukturen nicht zu schaffen.

Wir sind mittendrin. Der britische Umweltjournalist George Monbiot hat das Wort «Klimawandel» mittlerweile durch «Klimazusammenbruch» ersetzt. Es ist zu befürchten, dass er damit richtig liegt.

Marcel Hänggi ist Journalist und Autor mehrerer Bücher über Klimapolitik («Wir Schwätzer im Treibhaus. Warum die Klimapolitik versagt», 2008; «Ausgepowert. Das Ende des Ölzeitalters als Chance», 2011). Auf 2018 ist im Rotpunkt-Verlag ein Band mit dem Arbeitstitel «Fertig geschwatzt im Treibhaus. Eine Klimapolitik, die wirkt» angekündigt.