Nach der türkischen Wahl: «Das macht man doch nicht!»

Nr. 26 –

Für Oppositionelle war der Wahlsonntag eine riesige Enttäuschung. In Kadiköy, einer Istanbuler Enklave der Linksliberalen, ist die Stimmung trotzdem nicht nur depressiv.

Unmittelbar nach Erdogans Wahlsieg entfernen Arbeiter in Istanbul Kampagnensujets von Fahrzeugen. Foto: Fabian Biasio

Eigentlich möchte Serap nicht über die Wahlen reden. Es schade ihrer Gesundheit: «Seit Sonntag ist mein Blutdruck hier oben», sagt die 56-jährige Rentnerin und hält ihre Hand auf Augenhöhe. Aber wie viele türkische OppositionswählerInnen kann sie in den letzten Tagen an nichts anderes als den Wahlausgang denken. Und wie die meisten von ihnen will auch Serap nur ohne Nennung ihres Nachnamens mit der Journalistin reden, weil sie die Repression fürchtet.

Die Enttäuschung ist gross. In den Tagen vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am vergangenen Sonntag machte sich unter RegierungsgegnerInnen viel Optimismus breit: Die Umfragen zeigten eine Parlamentsmehrheit für die Opposition. Präsident Recep Tayyip Erdogan wirkte müde, seine Wahlkampfauftritte waren glanzlos. Eine Stichwahl zwischen ihm und Muharrem Ince, dem Kandidaten der grössten Oppositionspartei CHP, schien möglich.

Doch am Ende trug Erdogan den Sieg davon. Auch im Parlament erreichte die Koalition zwischen seiner Regierungspartei AKP und der ultranationalistischen MHP eine Mehrheit. Gleichzeitig sind Verfassungsänderungen in Kraft getreten, wodurch die Türkei nun definitiv eine Präsidialrepublik ist: Erdogan verfügt über deutlich mehr Macht, kann per Dekret regieren und wird voraussichtlich bis mindestens 2023 Präsident bleiben.

«Kennst du Asterix?»

Seine GegnerInnen in der Bevölkerung sind ernüchtert, viele fürchten um die Zukunft ihrer Familie und ihres Landes. Doch von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sprechen nur wenige. Serap, die Rentnerin, wählte Ince und die CHP. Sie macht sich Sorgen, vor allem um die jüngere Generation, aber der dynamische Wahlkampfauftritt der Opposition stimmt sie hoffnungsvoll. «Es ist noch nicht das Ende. Ohne Hoffnung kann man nicht leben», sagt sie – ein Satz, den man im Istanbuler Quartier Kadiköy oft hört.

Kadiköy, auf der asiatischen Seite der Stadt gelegen, ist eine Enklave der Linksliberalen: Die grosse Mehrheit der BewohnerInnen wählt die CHP oder die prokurdische HDP. Letztes Jahr stimmten hier etwa achtzig Prozent gegen die Einführung des Präsidialsystems, das Viertel wird von der CHP regiert. «Kennst du Asterix?», fragt Murat, 34, ein Musiker. «Es ist ein bisschen wie das gallische Dorf.»

Murat wählte die HDP, eine strategische Entscheidung. Die Türkei hat mit zehn Prozent die höchste Sperrklausel der demokratischen Welt. Viele befürchteten, dass die HDP es nicht über die Hürde schaffen würde, was der AKP wohl eine Supermehrheit im Parlament verschafft hätte. Doch am Sonntag erreichte die HDP fast zwölf Prozent – der einzige Lichtblick der Opposition.

Trotzdem ist Murat enttäuscht – auch von der Opposition. Er wählte Ince als Präsidenten. Nachdem sich Erdogan gegen Mitternacht zum Sieger erklärt hatte, zog sich der Kandidat der CHP wortlos zurück. Er verschickte lediglich eine Kurznachricht an einen Journalisten: Erdogan habe gewonnen. Verwirrung und Wut machten sich breit unter seinen WählerInnen, die sich aufmunternde Worte erhofft hatten. Erst am nächsten Tag trat Ince vor die Medien und erkannte Erdogans Wahlsieg offiziell an. Es habe Wahlbetrug gegeben, sagte Ince, aber nicht genug, um das Resultat zu verändern. Er entschuldigte sich für das SMS und versprach, trotz der Niederlage weiterzukämpfen.

«Das macht man doch nicht», kommentiert Murat. Die Opposition hätte auch den kleinsten Vorwurf von Wahlbetrug untersuchen müssen. «Es ist ein Verbrechen. Wenn jemand einen Menschen tötet, sagt man doch nicht, die Mehrheit der Leute ist unversehrt.» Murat glaubt noch immer, dass Erdogan die Stimmenzählung manipuliert hat. Damit ist er nicht allein, viele Oppositionelle äussern einen ähnlichen Verdacht. Doch die Wahlbeobachterorganisation der Opposition kam am Ende auf fast dasselbe Wahlergebnis wie die offiziellen Stellen. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sprach von «weitgehend eingehaltenen» Regeln am Sonntag.

Der Wahlkampf war hingegen mit Sicherheit nicht fair: Erdogan kontrolliert die Mehrheit der Medien, der seit dem Putschversuch geltende Ausnahmezustand schränkt die Versammlungs- und Meinungsfreiheit stark ein. Einige PolitikerInnen, wie Selahattin Demirtas, Präsidentschaftskandidat der HDP, sitzen seit mehr als einem Jahr hinter Gittern. Mit Erdogans Wahlsieg ist kein Ende der Repression in Sicht.

Machtkampf in der Opposition

Von Hoffnung sprechen dennoch viele. Die AKP verlor gut acht Prozentpunkte in den Parlamentswahlen, stürzte von fast 50 auf 41,9 Prozent. Die Mehrheit hält sie nur dank der unerwartet hohen Stimmenzahl ihres Koalitionspartners, der MHP. Auch der energiegeladene Wahlkampf von Muharrem Ince gibt vielen WählerInnen Mut. Ince erreichte 30 Prozent der Stimmen, etwa fünf Millionen mehr als seine Partei. In der CHP bahnt sich jetzt ein Machtkampf zwischen Ince und dem Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu an.

«Ich hoffe, Ince wird CHP-Vorsitzender», sagt ein 36-jähriger Akademiker in Kadiköy. Da er an der staatlichen Marmara-Universität arbeitet, möchte er nicht einmal seinen Vornamen in der Zeitung genannt haben. In jedem Fall müsse die Opposition weiterhin zusammenarbeiten. Im Vorfeld der Wahlen gründete die sonst so zerrissene Opposition eine Allianz: Die CHP und die konservative Iyi-Partei schlossen sich mit zwei kleineren Parteien zusammen.

«Die Türkei hat Probleme, wie die Wirtschaft und das Bildungssystem. Während sich die Regierung mit diesen Problemen beschäftigt, muss sich die Opposition organisieren», sagt der Akademiker. Die schwächelnde türkische Wirtschaft stellt für Erdogan noch immer eine Bedrohung dar. Die Beliebtheit des Präsidenten hängt zu grossen Teilen vom Wohlstand seiner Landsleute ab. Doch ExpertInnen warnen, dass seine wachstumsorientierte Politik die türkische Wirtschaft überhitzen lässt. Die Lira hat seit Jahresanfang ein Fünftel ihres Werts gegenüber dem US-Dollar verloren; die schwächelnde Währung und die hohe Inflation lassen Lebensmittelpreise stark ansteigen.

«Letztes Jahr gabs ein Kilogramm Tomaten noch für zwei Lira, jetzt kostet es sechs», sagt Ali Kiraz, ein Gemüsehändler in Kadiköy. Die Zwiebeln seien schon wieder teurer geworden. Unter anderem wegen der wirtschaftlichen Lage wählte der 58-Jährige, lange ein Unterstützer des Präsidenten, am Sonntag die Opposition. Jetzt fragt er sich, ob seine Stimme überhaupt einen Unterschied macht. «Ich will nicht mehr wählen», sagt er. «Nichts ändert sich.»

Kiraz ist in der Minderheit. Trotz zunehmendem Autoritarismus glauben die meisten TürkInnen an die Macht der eigenen Stimme – die Wahlbeteiligung lag am Sonntag bei 87 Prozent. «Ich glaube an einen Wandel in den nächsten Wahlen», sagt Fatos, eine 55-jährige HDP-Wählerin. «Die Opposition braucht ein wenig mehr Zeit.»

«Die nächsten Wahlen kommen»

Baris Yarkadas, bis vor kurzem noch ein Abgeordneter der CHP, stimmt ihr zu. Die Opposition habe es in der kurzen Zeit nicht geschafft, das Vertrauen der AKP-WählerInnen zu gewinnen, sagt er. Erdogan hatte die Wahlen, die erst im November 2019 hätten stattfinden sollen, um achtzehn Monate vorgezogen. Besonders für die streng säkulare CHP ist es schwer, konservative und religiöse WählerInnen anzusprechen. «Was wir jetzt machen, ist unzureichend», findet Yarkadas. Doch auf die andere Seite zuzugehen, ohne die eigenen WählerInnen zu verschrecken, werde immer schwerer: «Die Türkei ist nun zweigeteilt in AKP-Wähler und Niemals-AKP-Wähler.»

Yarkadas bleibt trotzdem zuversichtlich, wenn er in die Zukunft blickt. Die AKP hat schliesslich einige Stimmen verloren; die Wirtschaft und die Zusammenarbeit mit der MHP könnten Erdogan Schwierigkeiten bereiten. «Die nächsten Wahlen kommen bald», sagt Yarkadas. Im März 2019 sind zumindest schon mal Lokalwahlen.

Doch auch bei den nächsten Wahlen wird Erdogan den Vorteil haben – als nun allmächtiger Präsident sogar mehr denn je. «Lass es mich so sagen: Hoffnungslosigkeit tötet», resümiert Baris Yarkadas.