Wichtig zu wissen: Umgekehrt wird eine Schwalbe draus

Nr. 26 –

Ruedi Widmer über zu Köpfen gebogene Rohre und zu Fouls gedrehte Bilder

Vor lauter Nationalismus- und «Echte Schweizer»-Geschrei wegen Xherdan Shaqiris und Granit Xhakas Doppeladler-Handzeichen gegen Serbien sind unsere Synapsen über das Wochenende komplett anfällig für Entgleisungen geworden, ähnlich wie das verlotternde SBB-Netz. So stolperte ich heute Morgen über das Wort «Erdgeschoss», das ich «Eidgenoss» las. Die Erdgeschossenschaft steht also unter grossem psychischem Druck der rechten Medienoffensive.

Ich will gar nicht weiterlamentieren in dieser Sache, aber zumindest beim Fussball bleiben. Nein, zuerst will ich mich noch zu einem Kunstwerk äussern, an dem ich täglich vorbeiradle. Es gibt bei der Kantonsschule Büelrain in Winterthur eine «Kunst am Bau», die aus einem gebogenen, dünnen Rohr besteht. Es ist ein gutes Werk des Künstlers Markus Raetz, und es gehört in Winterthur zwar zu den eher unbekannten öffentlichen Kunstwerken, aber selbst bei grösserer Bekanntheit dürfte es auch bei kunstkritischem Publikum auf Wohlwollen stossen. Das Rohr ist so gebogen, dass man von der einen Seite einen menschlichen Kopf sieht. Läuft man nun drum herum, geht der Kopf plötzlich in ein undefinierbares Chrüsimüsi über, nur um von der anderen Seite wieder der gleiche Kopf zu werden – aber  auf dem Kopf stehend.

Ähnlich wie beim Umkehrkopf von Winterthur ging es mir wie allen FernsehzuschauerInnen, als Costa Ricas Verteidiger Giancarlo González den Brasilianer Neymar im Strafraum von den Beinen holte. Ich dachte nur: Das ist ja unglaublich dreist. So sah es auch der Schiedsrichter. Aber der neue Videobeweis sagte dann etwas anderes. Die ganze Szene sah nur von der einen Seite so brutal aus. In Wahrheit gab es kaum eine ernsthafte Berührung zwischen González und Neymar, und der brasilianische Star machte nicht nur eine Schwalbe, sondern eine skandalöse Doppelschwalbe.

Zum Glück hat jetzt der Schiedsrichter direkt am Spielfeldrand einen Bildschirm, wo er diesen «Videobeweis» konsultieren kann, worauf er den Elfmeter wieder zurücknahm. Ein völlig neues Gefühl beim Fussballschauen erfüllte mich. Vielleicht kann man ja jetzt auch andere Unerfreulichkeiten zurücknehmen, gemeine Tore oder ganze Spielzüge, die misslungen sind. Gerade das dynamische Fussballspiel war bis jetzt paradoxerweise immer so in Granit gemeisselt, inklusive jeder Ungerechtigkeit.

Dann aber begannen meine Bedenken sofort wieder, und zwar von einer neuen, dritten Seite. Okay, das war jetzt eine Erkenntnis, wie wenn man einen Zaubertrick durchschaut hat. Aber: Wer sagt mir, dass diese Aufnahme im Videobeweis nicht vorher in einem Fernsehstudio aufgezeichnet wurde? War das wirklich die gleiche Szene? Bei den Geldern, die im Fussball fliessen, würde sich das Anfertigen einer solchen Foulbibliothek mit Tausenden potenziellen Fouls schnell mal lohnen. Zumal man – wie ich bei meinen Kindern sehe, die das Fifa-Computerspiel spielen – inzwischen täuschend echte Computersimulationen anfertigen und bereits heute mit dem iPhone in Sekundenschnelle seinen Kopf auf andere Personen zaubern kann.

Ich habe zumindest in diesem Bereich noch ein gewisses Restvertrauen in die Fifa, dass nicht geschummelt wird. Aber wie viele meiner immer misstrauischeren Mitmenschen werden nun ein weiteres Tummelfeld haben, um noch mehr Dinge anzuzweifeln? Schweizer Fans fragen sich vielleicht plötzlich, ob die Doppeladler-Hände nur reinkopiert wurden. Serbische Fans staunen über die Schnelligkeit, wie den anderen acht Schweizern die Doppeladler-Geste so schnell aus den TV-Bildern wegretouchiert werden konnte. Nur bei den drei Stars hatte es zeitlich nicht gereicht, weil sie zu lange im Bild waren. Aber das ist alles nur noch eine Frage von Monaten, bis diese Rechengeschwindigkeit erreicht wird.

Ruedi Widmer hat das laut Videobeweis alles selber geschrieben (in Winterthur).