Die EU im Umbruch: Auf der Suche nach dem sozialen Europa

Nr. 9 –

Während die Bürgerlichen um die helvetische Souveränität bangen, wollen viele Linke nicht in die EU, weil sie ein neoliberales Projekt sei. Währenddessen wird in Brüssel längst über Europas künftiges Sozialmodell verhandelt.

Marie-Pierre Vieu trägt den Ruf der Gilets jaunes nach Brüssel. Die Kommunistin, die im EU-Parlament sitzt, wohnt in der französischen Kleinstadt Tarbes in den Pyrenäen, wo auch in diesen Tagen wieder wie im ganzen Land Hunderte Gelbwesten mit Trillerpfeifen durch die Strassen zogen. Sie halte zwar etwas Distanz zur Bewegung, sagt die 52-Jährige in ihrem Parlamentsbüro, doch sie teile ihre Hauptforderung: mehr soziale Gleichheit. Jetzt.

Distanz hält sie, weil sich die Bewegung politisch nicht klar bekenne. Dasselbe wirft die Verlegerin auch Jean-Luc Mélenchon vor, mit dem sie in die letzten EU-Wahlen gezogen war und für den sie 2017 ins Parlament nachrückte, als dieser in die französische Assemblée wechselte. Mélenchon versucht seit Wochen, sich an die Spitze der Gelbwesten zu hieven. Sie kämpfe für Gleichheit und Demokratie, sagt Vieu. Mélenchon dagegen versuche, den Unmut der Menschen zu nähren, damit sie die politische Elite wegfegten. Dafür sei er auch bereit, gegenüber MigrantInnen zweideutige Positionen zu vertreten. «Er spielt den Zauberlehrling. Mit diesem Populismus bereitet er den Boden für die extreme Rechte.»

Trotz Bedenken glaubt Vieu, dass die Gelbwesten und die rechten Populisten überall in Europa wie auch der Brexit ein positives Umdenken in Brüssel bewirken. «Das Establishment hat Angst, dass Europa explodiert.» Deshalb sei es zunehmend bereit, Europa sozialer zu machen. Der Weg sei steinig, sagt Vieu, doch gerade jüngst sei einiges vorangekommen. Und sie ist überzeugt, dass weitere Erfolge warten.

Jacques Delors’ Erbe

Auch Pervenche Berès hat umgedacht. Die Pariserin sitzt seit 25 Jahren für die SozialdemokratInnen im EU-Parlament. Zuvor beriet sie Laurent Fabius, damals Präsident des französischen Parlaments, der Mitte der achtziger Jahre Regierungschef unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterrand war. Die Gelbwesten, der Nationalismus, der Brexit: All das zeige, dass viele von der EU nicht profitiert hätten, sagt die 61-Jährige beim Gespräch in ihrem Büro. Sie blickt selbstkritisch auf die Sozialdemokratie zurück: «Als wir Ende der neunziger Jahre mit Lionel Jospin, Tony Blair und Gerhard Schröder in Frankreich, Grossbritannien und Deutschland an der Regierung waren, haben wir uns von der Marktlogik terrorisieren lassen.» Man habe zu wenig getan, um den Markt zu zähmen.

Als Berès 1994 ins EU-Parlament eintrat, legte Jacques Delors, Chefarchitekt der heutigen EU, sein Amt als EU-Kommissionspräsident nieder. Delors, der vor Fabius’ Zeit als Minister unter Mitterrand einen harten Wirtschaftskurs durchgesetzt hatte, hatte kurz nach Amtsantritt 1985 einen Plan für einen grossen europäischen Binnenmarkt vorgelegt. Die Regierungen stellten sich hinter ihn. Als Delors abtrat, war der Markt vollbracht. Ein Markt, in dem sich Güter, Dienstleistungen, Arbeitskräfte und Kapital frei über Grenzen bewegen können. Um die Jahrtausendwende folgte die Krönung seines Projekts: die Einführung des Euro.

Die Begründer des Binnenmarkts, sagt Berès, hätten geglaubt, dass die Entfesselung des Kapitals am Ende allen nütze. «Der Reichtum sollte von oben langsam bis nach ganz unten rieseln.» Leider sei es anders gekommen.

Die Entfesselung brachte mehr Ungleichheit, wie unzählige Studien zeigen. Die Privatisierung öffentlicher Betriebe und der Binnenmarkt haben noch mächtigere Konzerne kreiert, in denen oben Millionensaläre gezahlt werden. Gleichzeitig drückt der entfesselte Standortwettbewerb auf die unteren Löhne. Mit der Ungleichheit kamen die Schulden: Der Standortwettbewerb zwingt zu tiefen Firmensteuern, also leihen sich die Regierungen Geld, um die Ungleichheit zu lindern. Und sie haben die Banken entfesselt, damit ärmere Leute ihr Leben mit billigen Hypotheken verbessern können – und die Konjunktur ankurbeln.

Die gemeinsame Währung hinderte schliesslich schwächere Länder wie Griechenland daran, ihre Währung abzuwerten, um ihre Exporte konkurrenzfähig zu halten. Diese Länder wurden ärmer und verschuldeten sich, wovon vor allem Deutschlands Exportfirmen profitieren.

Als die Blase 2008 platzte und eine riesige Finanzkrise auslöste, stand die EU unter Führung von CDU-Kanzlerin Angela Merkel vor zwei möglichen Optionen: Sie hätte dem Binnenmarkt einen gemeinsamen Verteilungsstaat überstülpen können, so wie dies alle Staaten dieser Welt für ihren nationalen Markt getan haben. Kurz: Statt dass die ärmeren Länder und Menschen sich bei den Reichen verschuldeten, würden sie ein Stück dieses Reichtums erhalten. Doch Merkel wählte die zweite Option: Die ärmeren Staaten sollten ihre Schulden abbauen, indem sie öffentliche Stellen streichen, Sozialleistungen kürzen und die Löhne senken, um konkurrenzfähiger zu werden.

Die Menschen sollten sich dem Marktdiktat nach mehr Ungleichheit beugen. Das Ergebnis: Die Schulden steigen weiter.

Wie viele andere Linke kämpft Berès im Parlament für die erste Option: den Verteilungsstaat. Berès will die Harmonisierung der Unternehmenssteuern, um den Wettlauf nach unten zu stoppen. Sie will gemeinsame Steuereinnahmen, die über die Länder hinweg als Investitionen oder Sozialleistungen eingesetzt würden, um die Ungleichheiten auszugleichen. Und sie will höhere Löhne, durch kollektive Lohnverhandlungen und europaweite Mindestlöhne, die an den jeweiligen Wohlstand der Mitgliedstaaten angepasst würden. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mache in dieser Hinsicht zu wenig, schimpft Berès. «Der Mann führt uns an der Nase herum.»

Der Christdemokrat Juncker ist allerdings durchaus zu Zugeständnissen bereit. Der Luxemburger hatte seine Amtszeit 2014 mit einer grossen Rede für ein sozialeres Europa gestartet. Drei Jahr später stellten sich die Regierungen auf einem EU-Gipfel in Göteborg hinter ein entsprechendes Grundsatzprogramm: die Europäische Säule sozialer Rechte. Ein Bekenntnis zu einer EU mit fairen Steuern, guten Löhnen und sozialer Absicherung. Seither hat die Kommission einige Reformen lanciert.

Mit der Wahl von Emmanuel Macron 2017 zum französischen Präsidenten erhielt Juncker einen Verbündeten im deutsch-französischen Tandem, das die grossen Linien für die EU vorzeichnet. Kurz vor dem Göteborger Gipfel hatte Macron in einer seiner blumigen Reden an der Universität Sorbonne eine «Initiative für Europa» skizziert: ein Bekenntnis zu einem Verteilungsstaat mit gemeinsamen Einnahmen, zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit, zu harmonisierten Steuern sowie Mindeststandards von Sozialleistungen und Löhnen.

Doch Merkels Regierung, inklusive eines Grossteils ihres sozialdemokratischen Koalitionspartners, steht sozialen Reformen wie ein grosser Felsen im Weg. SPD-Finanzminister Olaf Scholz ist ein CDUler in SPD-Tracht. Die deutsche Regierung zeichnet nicht nur die grossen Linien vor, sie beherrscht auch den EU-Ministerrat, neben dem EU-Parlament die zweite gesetzgebende Kammer. Und die CDU dominiert auch die stärkste Fraktion im Parlament – die europäischen Christdemokraten. Daniel Caspary, Chef der CDU im Parlament, trifft sich fast jede Woche mit Merkel und anderen im Parteipräsidium. «Dort stimmen wir unsere Positionen ab», sagt der 42-jährige Baden-Württemberger, dessen Büro doppelt so gross ist wie jenes von Vieu und Berès. «Die CDU will eine Politik machen, die aus einem Guss ist.»

Die EU, so Caspary, brauche nicht weniger, sondern mehr Markt. «Wenn in Rumänien die Löhne tiefer sind, bringt das mehr Wettbewerb in die Sache.» Das sei gut. Mehr Wettbewerb ermögliche den Menschen, eigenen Reichtum zu schaffen, statt dass Reichtum umverteilt werde. Die Konkurrenz mache die EU-Länder zudem fit, damit sie in die übrige Welt exportieren könnten, sagt Caspary, der von einigen wegen seines Einsatzes für das Transatlantische Freihandelsabkommen mit den USA «Mister TTIP» genannt wird.

Sein Gefährte Manfred Weber, Fraktionschef der europäischen ChristdemokratInnen, wurde von der Partei für die EU-Wahlen im Mai zum Spitzenkandidaten gewählt. Geht die Partei als Siegerin daraus hervor, soll er Juncker in der Kommission beerben. Mit ihm würden soziale Reformen noch schwieriger.

In kleinen Schritten

Die deutsche Regierung ist grundsätzlich gegen einen Verteilungsstaat. Der grüne Abgeordnete Sven Giegold, Mitbegründer der NGO Attac Deutschland, die sich für eine faire Globalisierung einsetzt, sieht für die Einführung gemeinsamer Einnahmen und Sozialleistungen auf absehbare Zeit keine Chance. «Das ist nicht für morgen», sagt der 49-Jährige, der seit zehn Jahren im Parlament sitzt. Grössere Chancen gibt er Macrons Idee, gemeinsame Steuern in Gemeinschaftsprojekte zu investieren, doch auch dafür signalisiert Merkel wenig Lust.

Giegold ärgert sich, dass sich seine Regierung auch gegen eine Harmonisierung der Unternehmenssteuern stellt. Vor allem ärgert er sich aber, dass sie einige von Junckers Reformen blockiert, die viel weniger weit gehen, etwa das Country-by-Country Reporting, das Konzerne zwingen will auszuweisen, wie viel sie in den einzelnen Ländern versteuern. Finanzminister Scholz blockiert nicht nur dieses Projekt, sondern auch die vorgeschlagene stärkere Besteuerung von Digitalkonzernen wie Google. Er will die Steuer nur, wenn sie international eingeführt wird.

Gleichzeitig freut sich Giegold darüber, was jüngst alles erreicht wurde – «das hat niemand für möglich gehalten». Dazu beigetragen hätten Steuerskandale wie Swiss-Leaks – und Juncker. «Er hat sich vom Saulus zum Paulus gewandelt.» Die EU-Kommission verbot den Regierungen gewisse Steuerrabatte und verdonnerte Apple dazu, in Irland dreizehn Milliarden Euro Steuern nachzuzahlen. Ab Anfang 2019 wurden die wichtigsten Steuerschlupflöcher gestopft. Zudem führte die Kommission, um Geldwäsche und Hinterziehung zu bekämpfen, ein Transparenzregister ein, in dem aufgeführt wird, wer hinter Stiftungen steckt. Die Liste liesse sich um einiges verlängern.

Möglich würden solche Erfolge, weil sich deutsche Unternehmen von Techgiganten wie Amazon bedroht fühlten, beobachtet Giegold. Tatsächlich sagt CDU-Mann Caspary, dass die EU mehr Kompetenzen bei den Steuern brauche. Der jüngste Vorschlag der Kommission, dass in Sachen Steuern künftig per Mehrheit statt mit Einstimmigkeit entschieden werden soll, wird nicht von Deutschland gebremst, sondern von Steuerparadiesen wie Luxemburg.

Während sich Deutschland gegen europaweite Mindestlöhne stellt, hat die EU auch beim Lohnschutz einen Sprung gemacht. Neu müssen Firmen, die Angestellte für Arbeiten in ein anderes EU-Land entsenden, viel strengere Auflagen erfüllen, damit sie die örtlichen Löhne nicht unterbieten. Ihr Ziel: «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.» Die Entsenderichtlinie geht weniger weit als die flankierenden Massnahmen. Luca Visentini, Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbunds (ETUC), hatte den Schweizer Lohnschutz deshalb als «Vorbild für Europa» bezeichnet. Trotzdem sei der EU-Fortschritt ein grosser Erfolg, sagt der fünfzigjährige Italiener in seinem Brüsseler Büro. «Und dieser wäre ohne Macron unmöglich gewesen. Unmöglich.» Macrons Politik sei «schizophren». Seine französischen Gewerkschaftskollegen berichteten von einer komplett asozialen Politik, sagt Visentini. Er selber habe Macron jedoch als progressiven Menschen kennengelernt.

Wie in Steuerfragen, bei denen sich Deutschland teilweise gegen kleine Steuerparadiese stellt, verläuft auch der Streit um den Lohnschutz nicht nur zwischen Links und Rechts sowie zwischen französischem Republikanismus und deutschem Protestantismus. Auch hier sah Deutschland angesichts des Lohndrucks aus Osteuropa einen gewissen Handlungsbedarf, wie auch Caspary einräumt. Macron musste vor allem die östlichen Mitgliedstaaten gewinnen, die um ihren Vorteil als Tieflohnländer fürchteten.

Deutschlands Opposition gegen ein sozialeres Europa hat inzwischen ein Stück nachgelassen. Als Merkels Regierung nach der Finanzkrise 2008 Europa ihre radikale Sparpolitik auferlegt habe, sagt Luca Visentini, sei sie «Feind Nummer eins» der Gewerkschaften gewesen. Die Worte seien vielleicht harsch, ja, aber so sei es gewesen. «Heute verursacht sie weniger Schaden.»