Marsch nach Bern: Nach Hundert Jahren des Wartens

Nr. 9 –

Vor fünfzig Jahren demonstrierten rund 5000 Frauen gegen die Absicht des Bundesrats, die Europäische Menschenrechtskonvention ohne vorgängige Einführung des Frauenstimmrechts zu unterzeichnen.

«Frauerächt – Mänscherächt»: Am 1. März 1969 marschierten viele Frauen und wenige Männer zum Bundeshaus. Foto: Ringier Bilderdienst

«Demokratie – sie hat nicht Magd, nicht Knecht! Ich fordere hier mein volles Menschenrecht», skandierte eine junge Frau am 1.  März 1969 auf dem Bundesplatz in Bern vor Tausenden Frauen und wenigen Männern. Angeführt von Emilie Lieberherr, die den Protest im roten Mantel auf einer Holztribüne orchestrierte, wiederholten die Demonstrierenden Parolen wie «Frauerächt – Mänscherächt» oder «Bundesrat – uf zur Tat!».

Die Mehrheit der protestierenden Frauenrechtlerinnen war älter, geprägt vom jahrelangen ergebnislosen Kampf um die politische Gleichstellung. Auf Schildern verwiesen sie auf Artikel  4 der Bundesverfassung zur Gleichheit aller vor dem Gesetz. Jung waren vorwiegend die wenigen, mehrheitlich aus Zürich angereisten Demonstrantinnen der Neuen Linken. Sie kämpften weniger für die politische Gleichstellung als für die grundlegende Veränderung der Gesellschaft: Sozialismus statt Kapitalismus, neue Geschlechterbeziehungen statt sexueller Unterordnung. Das Frauenstimmrecht werde ihnen schon bald nachgeworfen, die Situation sei ein Anachronismus, hatten sie wenige Monate zuvor bei ihrer Störaktion am 75-Jahr-Jubiläum des Zürcher Frauenstimmrechtsvereins im Schauspielhaus Zürich verkündet.

Trillerpfeifen machen Geschichte

Am 1.  März 1969 dagegen machten die älteren Frauenrechtlerinnen ihrem Unmut über die Zumutung des Bundesrats Luft. Ausgerechnet im Dezember 1968, diesem Jahr der weltweiten Proteste gegen unterschiedlichste Formen der Unterdrückung, empfahl die Regierung dem Parlament recht unbedarft die Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mit Vorbehalten – unter anderem wegen des fehlenden Frauenstimmrechts. Der Kommentar des Bundesrats, der Vorschlag sei als «Ausdruck des Willens zum Handeln» zu verstehen, bestärkte die älteren Frauenrechtlerinnen darin, den Tatbeweis mit einer grossen Aktion einzufordern.

Wie das geschehen sollte, darüber allerdings waren sie sich nicht einig. So stellte sich an der ausserordentlichen Delegiertenversammlung des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht eine knappe Mehrheit gegen einen «Marsch nach Bern»: Junge Linke könnten ihn instrumentalisieren, warnten bürgerliche Frauenstimmrechtlerinnen. Der von einer knappen Mehrheit favorisierte Vorschlag einer Veranstaltung im Berner Kursaal wurde von der Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für das Frauenstimmrecht aufgenommen.

Doch anders als der einflussreiche Frauenstimmrechtsverein Bern entschieden sich die Frauenstimmrechtsvereine Zürich und Basel für den Marsch. Denn entgegen der Meinung vieler junger linker Frauen waren nicht wenige der älteren Frauenrechtlerinnen durchaus widerständig. So etwa die aus den USA zurückgekehrte Lilian Uchtenhagen oder die Architektin Berta Rahm, die wegen ihrer als «renitent» eingestuften Haltung keine öffentlichen Aufträge erhielt und später feministische Bücher verlegte. In der «Staatsbürgerin» schrieb sie als Reaktion auf den Vorschlag des Bundesrats als «Peter Ala» einen flammenden Aufruf, «nach hundert Jahren geduldigen Wartens» vom heldenhaften Mut der französischen und englischen Suffragetten zu lernen.

Besonders unerschrocken zeigte sich Emilie Lieberherr, Ökonomin, Gründungsmitglied des Konsumentinnenforums und spätere Zürcher SP-Stadträtin. Sie übernahm das Präsidium des Aktionskomitees für den Marsch. Am Morgen des 1.  März sollten im Kursaal die Frauenverbände tagen, am Nachmittag Frauen zum Bundeshaus marschieren. Wie viele dem Aufruf folgen würden, war unklar. Ob es zu Störungen und Krawallen kommen würde, fragten sich vor allem die Medien. Um die Miete für die Lautsprecheranlage zu bezahlen, liess Lieberherr Trillerpfeifen verkaufen. Ihre fulminante Rede auf dem Bundesplatz gipfelte in der Resolution zuhanden von Bundesrat und Parlament: «Wir Schweizerinnen hier auf dem Bundesplatz fordern das volle Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer und kantonaler Ebene. Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheit des Europarats darf erst dann unterzeichnet werden, wenn dieser Vorbehalt nicht mehr nötig ist.»

Aber kein Bundesrat zeigte sich, der Bundeskanzler nahm die Resolution entgegen. Die Demonstrierenden reagierten mit einem Pfeifkonzert. Um den Befürchtungen der gemässigten Frauenrechtlerinnen Rechnung zu tragen und die jungen Linken am Reden zu hindern, liess Lieberherr darauf den Stecker der Lautsprecheranlage ziehen.

Schluss mit dem «Anachronismus»

Nach der Zusammenkunft im Kursaal forderten die Frauenverbände ebenso unmissverständlich wie die Demonstrierenden, die EMRK nicht zu ratifizieren, bevor das Frauenstimmrecht nicht eingeführt sei. Schon zuvor hatten sie bei Politikern lobbyiert. Und so hatte bereits am Vortag, dem 28.  Februar, der Nationalrat die Motion von Max Arnold (SP) erheblich erklärt, die vom Bundesrat «ohne Verzug» einen Vorschlag zur Einführung des Frauenstimmrechts verlangte. Bereits in der Sommersession von 1970 bereinigte der Nationalrat den bundesrätlichen Verfassungsentwurf, und in der Herbstsession nahm der Ständerat die Vorlage an. Im Februar 1971 sollte die Mehrheit der stimmenden Männer die Einführung des Frauenstimmrechts bejahen. Zu verdanken war dies einzig dem Protest der Frauen, jungen wie alten.

Doch 1971 war zugleich der Auftakt eines jahrelangen Antagonismus zwischen der neuen und der alten Frauenbewegung. Der «Anachronismus» war Geschichte, die neuen Fragen lagen weniger auf dem Tisch als auf der Strasse. Erst 1991 sollten die alte wie die neue Frauenbewegung mit dem Frauenstreik wieder einen wirksamen Druck entfalten, der zu fundamentalen gesetzgeberischen Neuerungen führte. Ein neuer Schub ist mit dem Frauenstreik vom 14.  Juni angezeigt.