Digitale Überwachung: So kommt die Schere in den Kopf

Nr. 16 –

Der langjährige Chinakorrespondent Kai Strittmatter berichtet aus einem Land, das mit Big Data und künstlicher Intelligenz die totale Kontrolle über die Bevölkerung anstrebt. Sein neues Buch lehrt uns das Fürchten.

Der chinesische Telekommunikationskonzern Huawei steht seit Monaten im Kreuzfeuer westlicher Kritik: Seine konkurrenzlos günstige 5G-Technologie, mit der die mobile Datenübertragung zum Quantensprung ansetzt, ermögliche China Spionage im grossen Stil und gefährde die Sicherheit westlicher Demokratien. Kai Strittmatter, langjähriger Chinakorrespondent für den «Tages-Anzeiger» und die «Süddeutsche Zeitung», trägt mit seinem Buch «Die Neuerfindung der Diktatur» nicht zur Versachlichung der Diskussionen bei – im Gegenteil. Kernbotschaft seines Buchs: Xi Jinping und die Kommunistische Partei greifen mittels digitaler Überwachungstechnologie nach der Weltmacht. Genauer gesagt, nach der Macht in unseren Köpfen.

«Ein Leben nach der Abschaffung der Wahrheit, eingebettet in ‹Fake News›, manipuliert durch ‹alternative Fakten› – ich lebe das seit zwanzig Jahren», schreibt Strittmatter gleich zu Beginn. Staatspräsident Xi Jinping war noch keinen Monat im Amt, als er mit dem «Dokument Nummer 9» im April 2013 seinen «Schlachtplan» gegen westliche Werte und Konzepte wie Zivilgesellschaft, Gewaltenteilung und Pressefreiheit veröffentlichte. Im Zentrum stehen Informationstechnologien, mit deren Hilfe die 1,4 Milliarden BürgerInnen des Landes gesteuert und überwacht werden sollen – alles im Namen der inneren Sicherheit.

Kontrolle bis in den Intimbereich

Als Erstes brachte Xi das chinesische Internet – mit seiner vom Rest der Welt entkoppelten Hard- und Software eigentlich mehr ein Intranet – unter staatliche Kontrolle. Noch ist dazu ein gewaltiger Zensurapparat notwendig, der täglich aktualisierte Listen von verbotenen Wörtern versendet. Auf Baidu, der chinesischen Wikipedia, existieren das Jahr 1989 und damit das Tiananmen-Massaker nicht. Damit das so bleibt, üben VerwalterInnen von Netzknotenpunkten regelmässig eine «Abschaltung auf Knopfdruck»: Sie legen Serien von Websites innert Minuten lahm. Im Zweifelsfall werden BloggerInnen und CEOs von Social-Media-Konzernen gleichermassen im staatlichen Fernsehen an den Pranger gestellt und als «reuige Sünder» vorgeführt. Mittlerweile überbieten sich Baidu und die sozialen Medien Sina und Tencent gegenseitig mit der Einstellung neuer ZensorInnen.

Im Gegenzug hat die Regierung just Firmen wie diese zur Speerspitze der technologischen Entwicklung in den Bereichen Big Data und der sogenannten künstlichen Intelligenz (KI) auserkoren. Bis 2030 will China weltweit führende Forschungsnation und «KI-Innovationszentrum» sein. Im Fokus stehen nicht nur selbstfahrende Autos, medizinische Diagnostik oder Smart Cities, sondern vor allem Identifizierungstechnologien auf Bild- und Sprachebene. Gemäss dem staatlichen KI-Plan vom Juli 2017 sollen sich so «Änderungen im kollektiven Bewusstsein und in der Psychologie sofort erkennen und entsprechend rasch Gegenmassnahmen ergreifen» lassen.

Zu den führenden KI-Start-ups zählt Sense Time: Seine Technologie kommt in Überwachungskameras zum Zug, von denen es bis 2020 landesweit über 600 Millionen geben soll. Sense Time hat ein System namens «Viper» entwickelt, das Netzwerke von bis zu 10 000 Kameras gleichzeitig automatisch auswerten können soll. Im Projekt «Xueliang» sollen diese Kameras landesweit mit Datenbanken verknüpft werden. Überwachung wird so zunehmend in Echtzeit möglich – wer bei Rot über die Strasse geht, muss damit rechnen, dass sein Gesicht auf einem Videobildschirm am Strassenrand erscheint, samt Namen, Adresse und Personalausweisnummer. Und auf öffentlichen Toiletten gibt der mit einer Gesichtserkennungssoftware ausgerüstete Automat pro Person nur sechzig Zentimeter WC-Papier aus; wer mehr braucht, muss neun Minuten warten.

Dass die Regierung eng mit Konzernen wie Tencent und Alibaba zusammenarbeitet, hat gute Gründe. Mit ihren Apps We Chat und Alipay haben die beiden Firmen den Onlinebezahlmarkt unter sich aufgeteilt – und in China werden praktisch alle Dienstleistungen über das Smartphone abgewickelt und bezahlt, vom Taxi über Hotel und Essen bis hin zum Kabelfernsehen und den Krankenkassen-, Wasser- und Stromrechnungen. Die so akkumulierten Daten landen zuverlässig bei Polizei- und Sicherheitsbehörden. In der Stadt Dongying etwa erhalten PolizistInnen jeden Morgen um 8 Uhr einen Bericht auf ihr Mobiltelefon geschickt, der ihnen auf der Basis solcher Daten «Auffälligkeiten und Trends» meldet. Besonders im Visier sind laut Strittmatter ethnische Minderheiten und WanderarbeiterInnen.

Huawei auch mit dabei

Am weitesten fortgeschritten ist die staatliche Überwachung in der Provinz Xinjiang, der Heimat der UigurInnen, wo mittlerweile über eine Million Menschen in sogenannten Umerziehungslagern festgehalten werden: Hier müssen alle die App «Sauberes Netz» installiert haben, die den Behörden automatischen Zugriff auf alle Smartphonedaten gibt – sie werden an jedem der zahlreichen Polizeicheckpoints überprüft. Xinjiang, so Strittmatter, diene der Partei als «Testlabor für ihre KI-Spielereien». Und die grossen Hightechfirmen des Landes wie Huawei sind ganz vorne mit dabei.

Letztlich will die Regierung jede Bürgerin und jeden Bürger mit Big Data und KI auf Schritt und Tritt kontrollieren und lenken. Ihr «System für soziale Vertrauenswürdigkeit» zielt darauf ab, das individuelle Verhalten zu beurteilen und entsprechend zu belohnen oder zu bestrafen. Bis 2020 soll es landesweit installiert werden, Pilotprojekte laufen in zahlreichen Provinzen. «Der Staat», bilanziert Strittmatter, «ist live dabei, und er will in deinen Kopf. Nur in einem ersten Schritt möchte er dir dabei zusehen, was du schreibst und was du treibst, eigentlich aber zielt er darauf ab, dass du seine Regeln internalisierst.»

Das grosse Konsumversprechen

Die Schere im Kopf ist – und deshalb rebelliert in China auch kaum jemand – eine doppelte: Kontrolle und Einschüchterung, so Strittmatter, gehen Hand in Hand mit materieller Belohnung und der Ermunterung zum Konsumrausch. Als Beispiel nennt er die von Alibaba lancierte 24-Stunden-Onlineschnäppchenjagd am «Tag der Singles» – die «hemmungsloseste Feier des Konsums weltweit». Am 11.  November 2018 machte Alibaba so dreissig Milliarden US-Dollar Umsatz.

Der «Tag der Singles» hat 2018 erstmals auch die Kassen des Schweizer Onlinehandels klingeln lassen. Bevor wir mit dem Finger auf China als Gefahr für westliche Freiheit und Demokratie zeigen, sollten wir uns vielleicht ins Bewusstsein rufen, wie stark diese Freiheit auf einer hemmungslosen Schnäppchenjagd in ebendiesem China fusst: Huawei bietet nicht nur konkurrenzlos günstige 5G-Technologie (womit sich Sunrise einen Wettbewerbsvorteil im hart umkämpften Mobilfunkmarkt verschafft hat), sondern auch Smartphones, die halb so teuer sind wie gleichwertige Konkurrenzprodukte (und hierzulande die iPhones von Apple bereits überflügelt haben).

Und Hand aufs Herz: Auch wir im Westen lassen uns viel zu leicht dazu verführen, auf Smartphones und Netzplattformen persönliche Daten preiszugeben – weil es halt nun mal so bequem ist. Wer Chinas digitalen Überwachungsstaat als Bedrohung für die Demokratie betrachtet, sollte sein Augenmerk auch auf Google, Amazon, Facebook und Co. richten. Die Mechanismen sind so verschieden nicht.

Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert. Piper Verlag. München 2018. 288 Seiten. 35 Franken