Durch den Monat mit Anna Sandor (Teil 3): Können wir über Ungarn reden?

Nr. 16 –

Anna Sandor fängt im Wallis nicht nur Adler, sondern auch Wiedehopfe und Wendehälse. Sie erzählt, was für Vögel das sind und warum sie zu Ungarns ersten «Klimaflüchtlingen» gehört.

Anna Sandor: «Ich stelle mir gerne vor, wie ich meine alten Tage auf einem kleinen Bauernhof beim Balatonsee verbringe.»

WOZ: Frau Sandor, was haben Sie letzte Woche getan? Adler fangen geht ja im Moment nicht, weil sie am Brüten sind.
Anna Sandor: Zurzeit arbeite ich an der Vogelwarte Sempach und fange im Wallis Wiedehopfe und Wendehälse. Ich arbeite meist in Obstgärten, wo für die beiden Vogelarten rund 500 Nistkästen installiert worden sind. Das Gebiet, das wir für die Studie untersuchen, erstreckt sich von Martigny bis Sierre.

Wendehals, ein lustiger Name. Warum heisst er so?
Wegen seiner typischen Kopfdrehung. Wenn er sich bedroht fühlt, stellt er die Federn auf dem Kopf auf und dreht und wendet ihn ruckartig. Eigentlich gehört er zu den Spechten, aber er ist ein sehr untypischer Specht. Er kann zum Beispiel nicht an den Baumstämmen hoch- und runterlaufen. Dafür ist er ein Zugvogel. Den Winter verbringt er in der Sahelzone, jetzt im Frühling zieht er wieder nach Norden. Das tut sonst kein anderer Specht.

Und der Wiedehopf?
Ein prächtiger Vogel, er hat ein orangebräunliches Gefieder und einen markanten Kopfschmuck. Die Flügel und der Schwanz sind schwarz-weiss gebändert. Er wirkt wie ein Exot. Leider ist er auch selten geworden.

Wie fangen Sie die Vögel?
Ab Mitte April überprüfen wir regelmässig alle Brutkästen. Wenn wir ein brütendes Wiedehopfpaar finden, installieren wir eine Kamera und versuchen, die Elterntiere zu identifizieren. Das geht relativ einfach, wenn sie zum normalen Aluminiumring bereits einen sogenannten Farbring tragen. Das sind breitere Plastikringe mit einem Code darauf – der ist so gross, dass man ihn aus etwas Distanz mit dem Feldstecher ablesen kann und deshalb die Tiere nicht fangen muss.

Und wenn die Vögel keinen Ring tragen?
Dann installieren wir vor dem Eingang des Nistkastens eine kleine Falle und fangen die Eltern, wenn sie zurückkommen, um ihre Küken zu füttern. Wir fangen sie aber nur bei gutem Wetter und auch erst, wenn die Küken schon etwas grösser sind und ihre Körpertemperatur bereits selber regulieren können.

Wie läuft es mit dem Wendehals?
Um die zu fangen, arbeiten wir mit Klangattrappen. Das heisst, wir spielen Wendehalsgesang ab, um sie in unsere Netze zu locken. Die Wendehälse sind sehr territorial, deshalb lassen sie sich einfach fangen. Sie kommen sofort, wenn sie glauben, dass ein anderer Wendehals in ihr Territorium eingedrungen ist. Im Schnitt fangen wir pro Tag sechs Wendehälse. Wir werden aber in wenigen Tagen damit aufhören, weil wir sie nicht stören wollen, wenn sie mit Brüten begonnen haben.

Warum untersuchen Sie Wiedehopf und Wendehals?
Die Zahl der Brutpaare ist in den letzten fünfzig Jahren massiv zurückgegangen, und wir wollen wissen, woran das liegt. Beides sind Zugvögel, sie kommen im Frühling aus dem Süden hierher, um die Jungen aufzuziehen. Sie legen ihre Eier gerne in Baumhöhlen, zum Beispiel in Apfelbäumen. Wegen der intensiven Landwirtschaft finden sie weniger Nistmöglichkeiten und Nahrung. Es ist aber auch möglich, dass ihnen das Futter fehlt. Beide Vogelarten haben sehr spezifische Vorlieben. Der Wendehals frisst gerne Ameisen, der Wiedehopf vor allem grosse Insekten wie Grillen, Engerlinge oder Käfer. Welche Rückgangsursachen wie wichtig sind, wissen wir aber noch nicht. Unsere Arbeit soll helfen, mehr über die beiden Arten herauszufinden, damit man sie besser schützen kann.

Etwas ganz anderes: Können wir über Ungarn reden?
Klar … Fragen Sie!

Was halten Sie von der Politik in Ungarn?
Ich habe befürchtet, dass Sie das fragen. Ich bin einer der ersten «Klimaflüchtlinge».

Wie meinen Sie das?
Ich meine das politische Klima, davor bin ich geflohen. Es macht mich traurig, dass ich mich zurzeit im Ausland besser fühle als zu Hause. Ich bin in der Schweiz, weil ich diesen Job gefunden habe. Ich liebe die Schweiz, ich liebe die Berge – aber in meinem Herzen bin ich immer Ungarin. Ich stelle mir gerne vor, wie ich meine alten Tage auf einem kleinen Bauernhof am Balatonsee verbringe. Abgesehen davon habe ich in der Schweiz nur eine temporäre Anstellung. Es dürfte schwierig sein, in dem Bereich, in dem ich jetzt arbeite, eine Festanstellung zu bekommen.

Weshalb haben Sie Probleme mit dem politischen Klima in Ungarn?
Diese Fokussierung auf das Ungarische kann ich schwer nachvollziehen. Ich habe nicht das Gefühl, dass Ungarn wegen der EU seine Identität oder Souveränität verliert. Alles für das Überleben von Ungarn zu tun, scheint mir etwas selbstsüchtig. Nationen kommen und gehen. Viel wichtiger ist doch die Frage: Was passiert mit dem Planeten? Und dann habe ich nicht genug Angst vor Migranten und Migrantinnen. Ich bin ja selber eine Migrantin.

Die Umweltwissenschaftlerin Anna Sandor (34) wollte eigentlich Forstwirtin werden, weil ihre Eltern in der Forstwirtschaft gearbeitet hatten. Seit 2013 arbeitet sie immer wieder temporär für die Vogelwarte Sempach und die Uni Bern.