Durch den Monat mit Nadine Wietlisbach (Teil 1): Was ist subversiv an Bildern mit nackten Frauen?

Nr. 18 –

Seit gut einem Jahr ist Nadine Wietlisbach die neue Direktorin des Fotomuseums Winterthur. Als Kuratorin steigt sie mit einer kontroversen Schau der US-Künstlerin Anne Collier ein.

Nadine Wietlisbach: «Man muss schon rechte Scheuklappen aufhaben, wenn man nach dem ersten Oberflächenreiz nicht anfängt, diese Bilder anders zu lesen.»

WOZ: Nadine Wietlisbach, Ihre erste selbstkonzipierte Ausstellung als Direktorin des Fotomuseums Winterthur empfängt uns mit Bildern von weinenden Frauen. Müssen wir uns Sorgen machen?
Nadine Wietlisbach: Weinen ist in unserer Kultur negativ konnotiert. Es hat aber auch eine extreme Kraft, es ist ein emotionaler Zustand, bei dem etwas rausmuss. Das hat zwar oft mit Trauer zu tun, aber man kann ja auch weinen, nachdem man laut gelacht hat. Die Künstlerin Anne Collier reflektiert mit dieser Werkgruppe ein Phänomen, das für mich aber vor allem eine kulturelle Dringlichkeit hatte.

Inwiefern?
In der Popkultur gehören weinende Frauen oder einfach Frauen in extremen emotionalen Zuständen zum Repertoire. Die Popkultur hat diese Gefühlssprachen verinnerlicht. In diesem ersten Ausstellungsraum sehen wir Ausschnitte aus Plattencovers aus den siebziger Jahren, dabei geht es aber nicht darum, was das für ein Album oder welche Musik das war. Wichtig ist nur das ausgewählte Sujet, mit dem die Platte beworben wurde.

Man sieht immer nur ein einzelnes weinendes weibliches Auge.
Genau. Mit diesen Anschnitten zeigt Collier auf, wie unser Blick gelenkt wird. Gleichzeitig vervollständigt man als Betrachterin den fehlenden Teil des Bildes automatisch selber. Collier spielt auf ein Popkulturphänomen an. Und gleichzeitig ist es eine Reflexion über die Gebrauchsweisen der Fotografie auf Druckerzeugnissen, die heute eine andere Bedeutung haben als vor dreissig, vierzig Jahren.

Eine Art Gegenstück zu den weinenden Frauen ist die Diaschau «Women with Cameras», eine bunte Sammlung analog fotografierter Selfies und anderer Porträts von fotografierenden Frauen. Was reizte Sie daran?
Auch bei dieser Arbeit handelt es sich um gefundenes Material. Obwohl Anne Collier fast alle konkreten Informationen wie Datierungen entfernt hat, erzählen diese Bilder persönliche Geschichten von häuslichem Umfeld, Intimität, Selbstdarstellung. Vor allem aber steht das Fotografieren selbst im Zentrum. Man sieht Sofortbildkameras und kleine Handkameras. Es geht um eine Vergegenwärtigung im Akt des Fotografierens. Aber alles ist viel weniger stromlinienförmig als auf gewissen Instagram-Feeds heute. Es macht Spass, sich das anzuschauen, gerade weil die Frauen ungefiltert sind. Wir sehen Frauen jeglichen Alters, jeglicher Couleur, die sich ganz individuell präsentieren.

Neben dieser weiblichen Lust am Fotografieren thematisiert die Ausstellung sehr klar das Motiv der Kamera als Waffe und als männliches Geschlechtsteil und parallel dazu die nackte Frau als begehrtes Fotosujet.
Anne Collier macht etwas deutlich, das wir natürlich bereits ahnen. Es gibt auch in der Fotografie sehr viele Perspektiven, die einer männlichen Autorschaft entspringen. Indem sie sich dieses Materials annimmt und den Blick sehr spezifisch und sehr klar darauf lenkt, macht sie diese Perspektiven «übersichtbar», mit einem fast schon übertriebenen Gestus oder Fingerzeig.

Und wie situiert sich Collier selbst in diesem männlichen Blickregime?
Indem sie sich darin einschreibt, aber auf eine andere Art. Sie hat dabei nicht das Bedürfnis, einen spezifisch weiblichen Blick zu installieren. Sowieso finde ich es extrem schwierig, über einen weiblichen oder männlichen Blick zu diskutieren: Es geht hier um eine anhaltende, auch institutionelle Dominanz eines männlichen Blicks, während die weiblichen Künstlerinnen bis in die Gegenwart hinein viel weniger beachtet werden. Anne Collier behauptet in ihrer künstlerischen Praxis also nicht, der weibliche Blick funktioniere so und so. Sie will keinen Gegenentwurf präsentieren, sondern fügt einer männlichen Sichtweise ein Schlusswort hinzu.

Provokant gefragt: Was ist subversiv daran, im Fotomuseum Winterthur nackte Frauen an die Wand zu hängen?
Subversion als kuratorische Geste war für mich nicht das Ziel dieser Ausstellung.

Sondern?
Für mich geht es nicht darum zu sagen, wir als Fotomuseum Winterthur verschreiben uns nun ganz dem weiblichen Blick. Vielmehr will ich, dass über das genaue Hinschauen und das Gelenktwerden von einem Bild zum nächsten eine Vergegenwärtigung und eine kritische Reflexion stattfindet, die nachhallt.

Aber ist eine Ausstellung nicht immer auch ein Statement?
Eine Ausstellung muss nicht so klar und direkt als Statement oder Zeichen funktionieren. Sie kann auch erst mit einer gewissen Distanz einschlagen. Gerade bei denjenigen Leuten, die vielleicht zuerst finden: Oh, super, diese nackten Frauen, das wollen wir sehen! Oder bei denen, die sagen: Das wollen wir nicht mehr sehen! Man muss schon rechte Scheuklappen aufhaben, wenn man nach dem ersten Oberflächenreiz nicht anfängt, diese Bilder anders zu lesen. Es ist eine subtile Kritik, die sich in der Erinnerung verstärkt. Hoffe ich.

Bevor Nadine Wietlisbach (36) Direktorin des Fotomuseums Winterthur wurde, leitete sie das Photoforum Pasquart in Biel. Die Ausstellung «Anne Collier – Photographic» ist noch bis am 26. Mai in Winterthur zu sehen. Im nächsten Teil des Interviews geht es um angezogene Männer.