LeserInnenbriefe: Lieber das Original

Nr. 18 –

«Whistleblowing: Assanges falsches Versprechen», WOZ Nr. 16/2019

Ich habe nicht verstanden, warum Frau Dommann in ihrem Artikel über Julian Assange zu der Aussage kommt, der Mann sei ein «moralfreier Hasardeur». Sie hat diese Behauptung nicht hergeleitet aus Fakten und stellt sie ohne jede Begründung in ihren Text. Für mich ist es – ganz im Gegenteil – ein exzellenter Beweis von Moral, wenn ein Mensch dazu beiträgt, die Verbrechen aufzudecken, welche die USA und ihre Verbündeten in ihren Angriffskriegen in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Jemen et cetera verübt haben und weiter verüben.

Ich habe in den achtziger Jahren als Journalist in Mexiko und Zentralamerika die Aktivitäten der Todesschwadronen in El Salvador und anderen Ländern Lateinamerikas beobachten können. Sie operierten mit dem Backing von Washington. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Mordprogramm der Todesschwadronen und den extrajudizialen Hinrichtungen durch Drohnen, wie sie die USA systematisch in grossem Umfang betreiben. Wenn man in irgendeinem Fall von «Moralfreiheit» reden kann, dann in der Art, wie die USA auf der Welt «für Ordnung sorgen». Abu Ghraib, Bagram oder Guantánamo sind Symptome eines politischen Prinzips.

Assange, Snowden und andere Whistleblower wurden und werden von den USA gnadenlos wie Verbrecher verfolgt. Sie werden gejagt, eingesperrt wie Chelsea Manning oder in den Suizid getrieben wie Gary Webb, der den Nicaragua-Kokain-Skandal aufdeckte. Angesichts dieser Zustände zeugt es von einem hohen Mass an Zynismus, einen Assange als «hochgradig paranoid» zu charakterisieren, wie die Autorin des WOZ-Artikels dies tut. Die Verfolgung ist nicht eingebildet, sondern real. Frau Dommann konstatiert, dass Assange «die Verbündeten in Russland und den USA genauso frei wählt und wechselt wie seine Frisur oder seine Augenfarbe bei der Flucht in die Botschaft». So what? Soll mit dieser Feststellung suggeriert werden, Assange sei intelligent? Und ist es «moralfrei», intelligent zu sein?

Für mich als Leser ist es zweitrangig, ob Assange ein schwieriger Mensch ist oder nicht. Wichtig ist, dass er mit Wikileaks dazu beiträgt, die Lügen mächtiger Regierungen zu enthüllen, die mit dem Gerede von humanitären Missionen und Menschenrechten ihre wahren Kriegsmotive kaschieren: nämlich die Interessen einer gigantischen Rüstungsindustrie (mehr als 700 Milliarden Dollar US-Rüstungsetat dieses Jahr) und den Kampf um Rohstoffe und die Kontrolle geostrategischer Korridore.

Als ehemaliger Mitarbeiter der WOZ bin ich erstaunt über den Kurs der Zeitung in der Aussenpolitik. Da lese ich dann lieber das Original, nämlich die NZZ, als eine Kopie der NZZ in der WOZ. Mit leicht melancholischen Grüssen:

Helmut Scheben, Zürich