Kamel Daoud: Mit Worten Todgeweihte retten

Nr. 19 –

Parabel über die Macht des Schreibens: Der neue Roman des algerischen Autors Kamel Daoud, «Zabor», ist ein opulentes, ambitioniertes Projekt.

«Diese Geschichte müsste neu geschrieben werden», heisst es in Kamel Daouds Debütroman «Der Fall Meursault», mit dem der 1970 in Mostaganem an der algerischen Küste geborene Autor 2013 einen Sensationserfolg landete. Es handelte sich um eine Art Wiederaufnahmeverfahren des «Fremden», jenes vor gut einem halben Jahrhundert von Albert Camus verhandelten Falls, der das Rätsel des Absurden aufzuhellen versuchte. Diese Geschichte, so Daoud dort, «müsste in der gleichen Sprache, aber diesmal, wie das Arabische, von rechts nach links» erzählt werden.

In «Zabor», seinem noch ambitionierteren zweiten Roman, geht es um die Sprache und um die Geheimnisse der von rechts nach links und umgekehrt verlaufenden Schriften, um Benennungs- und Offenbarungskunst. «Warum musste man in dieser Richtung schreiben und nicht in der anderen?», fragt sich Ismael, «warum nicht schreiben, wie das Rind pflügt oder wie der Vogel von unten nach oben?»

Ausgesetzt in der Wüste

Ismael lebt in Aboukir, einem abgelegenen Dorf am Rand der Sahara. Zart gebaut, mit schwachen Lungen und einer blökenden Ziegenstimme ist der 28-Jährige ein Aussenseiter, Jungfrau noch, nicht beschnitten und zu Ohnmachtsanfällen neigend. Sein Vater Hadj Brahim, ein wohlhabender Fleischer, «scharfsinnig wie das Misstrauen und falsch wie ein Film», hatte seine Mutter und ihn zunächst in der Wüste ausgesetzt. Ismael wächst bei seiner Tante und seinem siechen Grossvater auf.

Doch Ismael hat eine besondere Gabe und eine Mission: Indem er erzählt und schreibt, rettet er die Todgeweihten im Dorf. Immer wenn die Weisheit des Arztes oder des Imams versagt, holt man ihn zu den Sterbenden. «Schreiben ist die einzig wirksame List gegen den Tod», beginnt der Roman, denn in der Sprache eröffnet sich ein Möglichkeitssinn, der sich gegen die Realität, auch gegen die eines schwächlichen, linkischen Körpers, stemmt.

Mit dieser unverkennbar am Scheherazade-Stoff orientierten Geschichte bringt der in seiner Heimat von fundamentalistischen Muslimen mit dem Tod bedrohte algerische Journalist eine weitere orientalische Parabel über die Macht des Schreibens in Umlauf. Doch diese Macht wird Ismael, der trotzig den ihm angehängten, abfällig gemeinten Namen Zabor übernommen hat – was im Arabischen auch das «Buch David» bedeutet –, aus den Händen geschlagen, als er eines Tages von seinen Halbbrüdern ins Haus des im Sterben liegenden Vaters gerufen wird. Zabor spürt, dass ihn seine Gabe angesichts dieser Herausforderung im Stich lässt.

Während der drei Tage am Bett seines Vaters oder verbarrikadiert in seinem Zimmer rekapituliert er die Geschichte seiner eigenen Initiationen, «ein arabischer Robinson Crusoe auf einer Insel ohne Sprache, Herr der Papageien und der Worte»: Der Ich-Erzähler blickt zurück auf die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit, die er durch den Erwerb des Hocharabischen in der Schule zunächst kompensiert, indem er sich seinem Lesehunger ausliefert. Doch es gibt nur wenige Bücher im Dorf, und so beginnt Zabor, in Heften aufzuschreiben, was er sieht und erlebt oder was er ausspinnt anhand der Buchtitel, deren er irgendwie habhaft werden kann. Die Sprache ist überlebenswichtige Ordnung und Erlösungsversprechen zugleich: Denn «schreiben oder erzählen ist das einzige Mittel, um in der Zeit zurückzugehen, ihr zu begegnen, sie wiederherzustellen oder zu kontrollieren».

Auf der Koranschule wird ihm klar, dass ihn das Heilige Buch nur im Kreis herumführt und das Rätsel des Lebens – und des Weiblichen – nicht löst. Als er zufällig den ersten französischen Roman entdeckt, eine körperbetonte Liebesgeschichte, die er sich holprig erschliesst, findet er seine Bestimmung: «Man muss einen grossen Roman gegen den Strom des Heiligen Buches schreiben», einen «über den Rand seiner Hefte» hinaus. Die von links nach rechts sich bewegenden Zeichen, Strandgut, das die Kolonialherren in Algerien zurückgelassen haben, stillen ein lang empfundenes Begehren.

Kritik am Heiligen Buch

«Zabor» ist die Selbstaufklärung eines sich als Opferlamm imaginierenden Kindes und Jugendlichen, das durch das Erzählen seinen Körper (wieder)findet und überlebt. Über die opulente, gelegentlich etwas redundante Geschichte hinaus, die wie schon im «Fall Meursault» durch eine kraftvolle, von Claus Josten ins Deutsche übertragene Bilderfülle besticht, hinterlegt Daoud in «Zabor» aber auch eine kompakte Erzähltheorie, in der er über Schreibhaltungen, Bildsprache und seinen Zugriff auf Realität Auskunft gibt: «Ich glaube nicht an die Theorie von der verborgenen Bedeutung», lässt er Zabor sagen. «Ich glaube an die Bestandsaufnahme und den Vorrang des Gedächtnisses vor dem Tod.»

Implizit ist damit auch eine Kritik an den Aus- und Umdeutungen des Heiligen Buchs verbunden, das noch immer, wie Daoud sagt, der Übersetzung in die gesprochenen Sprachen im arabischen Raum harrt. Keinen Zweifel jedoch lässt der Autor daran, dass die 5436 Hefte, die Zabor geschrieben, vergraben und schliesslich dem Wind ausgeliefert hat, dem Heiligen Buch überlegen sind – das wird ihm wieder einmal den Titel des Häretikers eintragen.

Kamel Daoud: Zabor. Roman. Aus dem Französischen von Claus Josten. Verlag Kiepenheuer und Witsch. Köln 2019. 378 Seiten. 32 Franken