Auf allen Kanälen: Da staunt der Bürokrat

Nr. 21 –

Der sagenumwobene Zettelkasten des Soziologen Niklas Luhmann geht online – und landet so endlich im Land seiner Träume.

Niklas Luhmann startete seine Karriere nicht wie viele andere Soziologen seiner Generation an einem philosophischen Institut, sondern in den Amtsstuben der BRD. In den siebziger Jahren wurde ihm, dem Exjuristen, oft vorgeworfen, er sei noch als Professor der Soziologie ein Beamter im Herzen geblieben und habe die Realität nur anders geordnet, statt sie zu kritisieren. Mit zum Bild von Luhmann als affirmativem Verwalter der Welt gehört, dass das Zentrum seiner Theoriearbeit ein Zettelkasten mit 90 000 Karteikarten war. Seit kurzem finden sich die ersten Zettel digitalisiert im Netz, im Rahmen des auf fünfzehn Jahre angelegten Editionsprojekts von Luhmanns Nachlass.

Luhmanns Kasten ist ein Fetisch der Theorie. In den letzten Jahren, als er wegen eines Erbschaftsstreits nicht einsehbar war, wurde er als verschwundener «Gral der Soziologie» beschrieben. Doch wer ihn tatsächlich anschauen durfte, war oft etwas überfordert. Luhmann notierte dazu, unter dem Titel «Geist im Kasten» auf den Zettel 9/8,3: «Zuschauer kommen. Sie bekommen alles zu sehen, und nichts als das – wie beim Pornofilm. Und entsprechend ist die Enttäuschung.» Woher also kam der Mythos?

Im Kopf des Meisters

Der Bielefelder Soziologe verbrachte bis zu seinem Tod 1998 mehr Zeit mit dem Füttern seines Kastens als mit dem Schreiben. Was er an Papier finden konnte, zerschnitt er zu Karteikarten, auch Zeichnungen seiner Kinder. Niklas Luhmann schürte den Mythos um diesen Kasten selbst nur zu gerne, zeigte seinen Theorietabernakel, den er neben seinem Schreibtisch stehen hatte, auch stolz im Fernsehen. In Aufsätzen schwärmte er von seinem Kasten, als sei er sein bester Freund, und bezeichnete ihn als «kompetenten Kommunikationspartner», als sein «Zweitgedächtnis» und «Alter Ego». Luhmanns Zettelkasten war kein reines Arbeitsmittel, sondern, wie einer seiner Schüler meinte, seine wissenschaftliche Autobiografie. Ein Blick in den Kasten versprach und verspricht Einblicke in den Kopf des Meisters.

Doch auch andere Zeitgenossen wie der Schriftsteller Arno Schmidt oder der Philosoph Hans Blumenberg lebten innig mit Karteikästen zusammen. Seit der Neuzeit erleichterten lesende Menschen ihre Gedächtnisse in Sudelbüchern und bald auch auf Karteikarten. Heute bewerben Apps wie Evernote das Versprechen, dass der Mensch in Allianz mit Gerätschaften sein Denken optimieren kann, mit Slogans wie «Remember Everything».

Der Kasten denkt

Was Luhmanns Zettelkasten jedoch über den Kreis seiner JüngerInnen hinaus faszinierend macht, ist die unheimliche Effizienz, mit der Luhmann schrieb. Er publizierte 50 Bücher und ungefähr 500 Aufsätze – was er mit seiner Partnerschaft mit dem Kasten erklärte: «Ich denke ja nicht alles allein, sondern das geschieht weitgehend im Zettelkasten.» Denn Luhmanns Kasten war mehr als ein Wissensspeicher. Er wusste, dass auch eine Beziehung zu einem Zettelkasten nur funktionieren konnte, wenn «die Partner sich wechselseitig überraschen können» – und erzog seinen Gefährten entsprechend. Für ihn war zentral, dass die Ordnung «nicht zur Fessel» würde. Ein Grossteil seiner Ordnungsprinzipien im Zettelkasten, die ausformuliert trocken wie Verwaltungsrecht sind, war gezielt darauf angelegt, Unordnung zu produzieren. Luhmann verachtete systematische Ordnungen nach Themen, er versuchte, ein Archiv von «strahlenförmig» angeordneten Assoziationen zu kultivieren, die in der Summe Überraschungsmomente generieren sollten. So konnte auf Luhmanns Zetteln eine Notiz zu Glücksspiel auf Träume verweisen – also auf andere erregte Bewusstseinszustände – und zugleich auf «Gespräche mit Vorgesetzten» – eine weitere Situation, in der Menschen vollkommen fokussiert sind.

Luhmann kultivierte mit seinem Kasten ein Archiv des Staunens über Ordnungen, erfasste Gesellschaft damit als Zusammenhang von Unerwartetem. Gerade durch dieses Verknüpfungsgewirr ist sein Kasten ein futuristisches Relikt, das vom Internet als Spiegel des Sozialen bereits träumte, als die Gedanken noch in Holz lagerten. Ironischerweise besass Luhmann, dieser Buchenholzcyborg, zeitlebens keinen Computer. Er sagte, sie liessen ihm keine Ruhe: «Ich will immer wissen, was hinten rauskommt.»

www.niklas-luhmann-archiv.de