Sexuelle Gewalt: Ein völlig veraltetes Sexualstrafrecht

Nr. 21 –

Sex ohne Einwilligung gilt in der Schweiz nur als Vergewaltigung, wenn sich das Opfer nach Kräften gewehrt hat. Amnesty International fordert, das Schweizer Sexualstrafrecht endlich zu revidieren.

Was ist am Wort «Nein» so schwierig zu verstehen? Demonstration zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, Genf, November 2018. Foto: Salvatore Di Nolfi, Keystone

Schockierend und erschreckend, ja. Aber überraschend sind die Zahlen nicht. Sie bestätigen, was jene, die sich mit dem Thema der sexualisierten Gewalt gegen Frauen auseinandersetzen – und wohl auch generell die meisten Frauen – schon lange wussten: Sexualisierte Gewalt ist Alltag in der Schweiz. Laut einer im Auftrag von Amnesty International vom Forschungsinstitut GFS Bern durchgeführten und diese Woche präsentierten Studie haben 59 Prozent der Frauen in der Schweiz sexuelle Belästigung, jede fünfte Frau ungewollte sexuelle Handlungen erlebt. Das bedeutet, dass hochgerechnet 800 000 Frauen bereits Opfer von sexueller Gewalt geworden sind.

Dass diese Zahlen nicht überraschen, bedeutet keinesfalls, dass sie unwichtig sind. Im Gegenteil. Mit der Studie liegen erstmals repräsentative Zahlen zum Thema sexualisierte Gewalt vor. «Es ist bezeichnend, dass eine NGO diesen ersten Schritt macht, der gemäss der Istanbul-Konvention eigentlich Aufgabe des Staates wäre», sagt Simone Eggler von Terre des femmes Schweiz, die in der Koordinationsgruppe des «Netzwerks Istanbul Konvention» sitzt. «Das zeigt, dass schlicht der politische Wille fehlt, sich des Problems ernsthaft anzunehmen. Aber wenn 59 Prozent der Frauen sagen, sie seien sexuell belästigt worden, dann kann das niemand mehr ignorieren.»

Die Diskrepanz zwischen den Zahlen der Studie und der Kriminalstatistik ist frappant: 2018 wurden 1291 Delikte von sexualisierter Gewalt (darunter fallen sexuelle Nötigung und Vergewaltigung) angezeigt, doch gemäss der Umfrage von Amnesty erstatten nur 8 Prozent der betroffenen Frauen Anzeige. Das hat viel mit Scham zu tun, aber auch damit, dass gemäss der Studie 62 Prozent der Frauen glauben, dass ein Strafverfahren aussichtslos wäre. Zu Recht: Da es sich bei einer Vergewaltigung meistens um ein Vieraugendelikt handelt, also Aussage gegen Aussage steht und die Übergriffe schwer zu beweisen sind, sind Verurteilungen selten. Dazu tragen auch Vergewaltigungsmythen bei, die in der gesamten Gesellschaft wie auch bei den Strafverfolgungsbehörden verbreitet sind: Welche Kleidung hat die Frau getragen? Wie viel Alkohol getrunken? Hat sie sich genügend gewehrt? All diese Fragen implizieren eine Mitschuld des Opfers.

Ohne Penis keine Vergewaltigung

Wobei im Sexualstrafrecht vor allem die Frage zentral ist, ob sich das Opfer gewehrt hat. Der Täter muss das Opfer bedrohen oder Gewalt anwenden, damit der sexuelle Übergriff als sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung gilt. «Das Schweizer Sexualstrafrecht ist völlig veraltet», sagte die Juristin Nora Scheidegger von der Universität Bern, die zu diesem Thema promovierte, an der Pressekonferenz von Amnesty International. In der Schweiz gilt nach wie vor nur die vaginale Penetration mit einem Penis als Vergewaltigung, was unter anderem auch bedeutet, dass beispielsweise Männer keine Vergewaltigungsopfer sein können.

Im Rahmen der anstehenden Harmonisierung der Strafrahmen soll zwar neben einer Erhöhung der Mindeststrafen die Vergewaltigungsdefinition ausgeweitet werden auf jegliche Penetrationen – egal ob vaginal, anal oder oral. «Aber das reicht nicht», betonte Scheidegger. «Die Frage der Einwilligung sollte ein zentrales Element der Reform sein. Die bisherige Grundhaltung des Strafrechts ist, dass sich das Opfer wehren muss. Das ist nicht richtig, und das kann man nicht von einem Opfer erwarten.» Aus der Traumaforschung ist beispielsweise das sogenannte Freezing längst bekannt: In besonders bedrohlichen Situationen kann der Körper in einen Erstarrungszustand verfallen, das Opfer ist somit unfähig, sich gegen Angreifer zu wehren. Doch das Schweizer Strafrecht basiert auf der Idee, dass die Einwilligung quasi implizit gegeben ist, solange keine Gewalt im Spiel ist. Die Schweiz ist damit nicht allein: Lediglich 8 von 31 europäischen Staaten, darunter Deutschland und Schweden, erkennen an, dass Sex ohne Zustimmung Vergewaltigung ist.

Die Befürchtungen der Politiker

Amnesty International hat nun eine Petition lanciert, die sich direkt an Justizministerin Karin Keller-Sutter richtet und unter anderem verlangt, dass alle sexuellen Handlungen ohne Einwilligung strafbar sind. Amnesty stösst bereits auf Widerstand: So befürchtet SP-Ständerat Daniel Jositsch, dass mit einer solchen Gesetzesänderung die Beweislast umgekehrt würde. FDP-Nationalrat Andrea Caroni meint, dass man so während des Aktes quasi permanent die Zustimmung der Partnerin einholen müsste. Ähnlich wurde bereits in Schweden vor der Anpassung des dortigen Gesetzes argumentiert. In der SRF-Sendung «10 vor 10» zeigte Nora Scheidegger wenig Verständnis für diese Argumentation. Von einer Umkehr der Beweislast könne keine Rede sein. Man müsse einem mutmasslichen Täter aber etwas anderes nachweisen als bisher. Also nicht, dass er Gewalt angewandt hat, wie es heute der Fall ist, sondern dass er das Nein des Opfers nicht respektiert hat. So beabsichtigt auch Amnesty mit der Petition, dass die alte feministische Forderung «Nein heisst Nein» endlich auch auf Gesetzesebene Anwendung findet.