Wahlen in der EU: Europa allein ist nicht die Antwort

Nr. 22 –

Die EU-BürgerInnen haben gewählt – und die beste Nachricht ist, dass sie es massenhaft taten: Mit knapp über fünfzig Prozent lag die Beteiligung so hoch wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Selbst in Frankreich, wo man seit jeher eher auf das nationale Geschehen fixiert ist, machte mehr als jedeR Zweite sein Kreuzchen, zur Überraschung der dortigen MeinungsforscherInnen. Die hohe Wahlbeteiligung verschafft dem Europäischen Parlament Legitimation für die Zukunft und beweist, wie sehr das Schicksal des postnationalen Grossexperiments namens EU die Menschen umtreibt.

Die zweite gute Nachricht ist, dass die nationalistischen und autoritären Kräfte zwar ein paar Sitze dazugewonnen haben, ihr Erfolg aber nicht so dramatisch ist wie befürchtet. Dies mag ein bescheidenes Hoffnungszeichen sein und noch keine Trendwende bedeuten, aber zumindest hat der europaweite Rechtsruck nicht weiter an Fahrt aufgenommen.

Auf der Wahlparty der AfD kam jedenfalls keine Stimmung auf: Die deutschen Rechtsextremen schnitten schlechter ab als bei der Bundestagswahl 2017. Und in Frankreich liess sich zwar Marine Le Pen feiern, weil ihr Rassemblement National wie schon bei der Europawahl 2014 stärkste Kraft wurde. Anders aber als damals sendete das keine Schockwellen mehr über den Kontinent: Das RN mobilisierte deutlich weniger WählerInnen als noch in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen 2017 – allein schon wegen der heftigen sozialen Kämpfe rund um den Aufstand der Gilets jaunes hätte man Schlimmeres erwarten können.

Es lohnt sich indes, genau hinzuhören, wie die Rechten die Wahlergebnisse interpretierten. So meinte Le Pen, dass diese «die neue Kluft zwischen den einerseits nationalen und den andererseits globalen Kräften» unterstreichen würden. Hinter dieser Interpretation steckt strategisches Kalkül: Le Pen beansprucht damit, exklusiv die Opposition gegen den noch immer den Kontinent beherrschenden Wirtschaftsliberalismus zu verkörpern; eine Linke kommt in ihrer Gleichung gar nicht mehr vor. In diese Melodie stimmte auch AfD-Chef Alexander Gauland ein, als er Anfang der Woche die grünen KosmopolitInnen zum «Hauptgegner» erklärte.

In frappanter Weise entspricht dies der Doktrin von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dass die Front nicht mehr zwischen links und rechts, sondern zwischen «progressiv» und «nationalistisch» verlaufe. Ähnlich lautete auch die Rhetorik derer, die den Urnengang vom Wochenende zur «Schicksalswahl» deklariert hatten, in der sich alle aufrechten DemokratInnen unbedingt zu Europa zu bekennen hätten – nach der Maxime: Hauptsache wählen, egal was, solange die Stimme nicht an Rechtsaussen geht! In Deutschland profitierten davon vor allem die Grünen, die sich erfolgreich als Bollwerk gegen rechts verkaufen konnten und zudem Rückenwind von der Klimabewegung erhielten, ungeachtet des vielfach belegten Opportunismus dieser Partei.

Es ist aber verquer zu meinen, der die Gegenwart bestimmende Widerspruch verlaufe nicht länger zwischen links und rechts, sondern zwischen weltoffen und nationalistisch. Zwar haben tatsächlich die grossen Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien weiter an Bedeutung verloren, sodass sie gemeinsam erstmals seit 1979 nicht mehr über die absolute Mehrheit im EU-Parlament verfügen – beide Lager haben sich immer weiter angenähert und werden kaum noch als Alternativen wahrgenommen. Das heisst aber nicht, dass deswegen die Frage nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums keine Rolle mehr spielen würde.

Die Kräfte links der Mitte wären gut beraten, diese wieder ins Zentrum zu rücken; die soziale Frage spielte im europäischen Wahlkampf nur eine Nebenrolle, obwohl genug Menschen in der EU leben, die deren politische und ökonomische Ausrichtung ablehnen, ohne deswegen die europäische Einigung als solche infrage zu stellen. Dass die SPD mit dem schon fast atemberaubend inhaltsleeren Slogan «Europa ist die Antwort» ein katastrophales Ergebnis einfuhr, ist bezeichnend: Blosse Beschwörungen der von rechts drohenden Gefahr und Europapathos werden dem reaktionären Spuk kaum ein Ende bereiten.