Klimaproteste: «Du bist Teil von etwas Grösserem»

Nr. 26 –

In Aachen trafen sich am Wochenende Klimastreikbewegte aus ganz Europa. Gleich daneben blockierte Ende Gelände den Braunkohletagebau Garzweiler. Ein Zusammentreffen, das Folgen haben könnte – auch in der Schweiz.

Miriam Rizvi kennt den Kohleabbau aus der Kindheit. Sie ist in Frostburg aufgewachsen, einer Kleinstadt in den Appalachen im Nordosten der USA. Das üppig bewaldete Mittelgebirge hat immer mehr kahle Stellen: Beim «mountaintop removal mining» sprengt man die Bergkuppen, um an die darunter liegende Kohle zu kommen. Rizvi erinnert sich an den schwarzen Staub auf dem Sims, wenn man ein Fenster öffnete. Und daran, wie ihr Vater ihr den Treibhauseffekt erklärte. Die Familie sass im Auto, das Auto stand im Stau.

Vor vier Jahren kam Miriam Rizvi nach St. Gallen. Dort geht sie heute in die Kantonsschule. Und seit diesem Winter hat die Achtzehnjährige volles Programm: Sie ist Sprecherin des Kollektivs Klimastreik Ostschweiz.

Bedrohte Dörfer

Trotz ihrer Kindheitserinnerungen erschrickt Rizvi, als sie am Samstagmittag an der Kante des Tagebaus Garzweiler im Rheinischen Braunkohlerevier steht. «Alle, die sich mit dem Klima beschäftigen, sollten das sehen.» Eine tote, ausserirdisch wirkende Landschaft in allen Brauntönen zwischen Hellbeige und Braunschwarz. Der nächste der fast hundert Meter hohen Kohlebagger steht so tief unten im Loch, dass er wirkt wie ein Spielzeug. An diesem Samstag stehen die Bagger, die sonst sieben Tage in der Woche am Untergrund nagen, still: Über tausend AktivistInnen der Klimabewegung Ende Gelände sind in die Grube gestürmt. Von oben sehen sie aus wie Figürchen in einem riesigen Sandkasten. Bald sind sie von der Polizei umzingelt. Die Rettungsdecken aus Metallfolie, unter denen sie Schatten suchen, blitzen in der Sonne.

Es ist ein heisses Wochenende im Rheinland: AktivistInnen der Klimastreikbewegung, in Deutschland Fridays for Future genannt, sind aus fast zwanzig Ländern nach Aachen gekommen. Am Freitag haben dort 40 000 Leute, längst nicht nur Jugendliche, für Klimaschutz demonstriert. Am gleichen Tag hat Ende Gelände die Gleise der Kohlebahn besetzt, die das Kraftwerk Neurath mit Brennstoff versorgt.

6000 Menschen beteiligen sich am Wochenende an Ende-Gelände-Aktionen um den Tagebau Garzweiler, eine knappe Stunde Fahrt von Aachen entfernt; eine kleine Gruppe schafft es sogar auf einen Kohlebagger. Auch ein Teil der Fridays-for-Future-Jugendlichen nimmt an den Aktionen teil und lernt hier das Prinzip der gewaltfreien direkten Aktion kennen.

Miriam Rizvi geht nicht in die Grube. Sie fühlt sich nicht bereit für eine solche Aktion, die mit einer Ladung Pfefferspray ins Gesicht, einer Verhaftung oder einer Schadenersatzklage enden kann, wenn man Pech hat. Aber sie nimmt am Samstag an einer Demo am Tagebau teil. Etwa 8000 Leute ziehen dem Grubenrand nach Richtung Keyenberg – ein Dorf, das direkt über dem Kohleflöz liegt. Geht es nach dem Betreiber von Garzweiler, dem Energiekonzern RWE, soll die Grube nach Westen ausgedehnt werden. Keyenberg würde im Loch verschwinden. «Alle Dörfer bleiben!» ist das Motto der Demo. Ob dieses Ziel erreicht wird, hängt davon ab, wann Deutschland aus der Kohle aussteigt. Die Kohlekommission, der PolitikerInnen, Wirtschafts- und NGO-VertreterInnen angehören, hat sich letzten Winter auf das Jahr 2038 geeinigt. Doch das ist viel zu spät, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Spätestens 2030, fordern die Umweltverbände. Sofort, fordert Ende Gelände.

Wie immer starten mehrere grosse Gruppen, genannt Finger, an verschiedenen Orten Aktionen. Jeder Finger hat eine Farbe. Der goldene, der eine glänzende Flagge trägt, hat sich der Demo angeschlossen. Am Rand des Tagebaus angekommen, schlängeln sich über tausend Leute an der Polizeireihe vorbei und rennen den Steilhang hinunter. Miriam Rizvi konnte mit ihren St. Galler KollegInnen das Ganze aus der Nähe verfolgen. Sie ist begeistert: «Ein sehr romantischer Moment!» Ende Gelände sei keine Konkurrenz zu den Fridays-for-Future-Demos, im Gegenteil.

Kopfschüttelnd beobachtet ein stämmiger Mittfünfziger mit ledrigem Gesicht das Geschehen vom Grubenrand aus. «Dass die sich da in Lebensgefahr bringen – versteh ich nich.» Er trägt einen orangen RWE-Overall und ist Kohlebaggerfahrer. «Das ist Hausfriedensbruch! Dieses Gelände gehört der RWE!» Der Mann steht nicht zufällig hier: Direkt an der Demoroute verschenkt RWE Grillwürste, Kaffee und Wasser. Einige verschwitzte DemonstrantInnen nehmen das Angebot gerne an. Die Broschüren, in denen der Konzern den Klimakiller Braunkohle eloquent verharmlost, lassen sie allerdings liegen. Lieber verwickeln sie die RWE-Angestellten in hitzige Diskussionen. Die Antworten des Baggerfahrers klingen auswendig gelernt: «Wir sind schon Vorreiter! Wir haben den CO₂-Ausstoss um dreissig Prozent reduziert! Demonstrieren Sie lieber in Polen oder China!» Die Grube früher stilllegen? Das gehe keinesfalls: weil es das Konzept der Aufschüttung und Renaturierung durcheinanderbringen würde, erklärt der Baggerfahrer. Und wegen der Arbeitsplätze.

Hundert Prozent Vertrauen

Am Sonntagmittag besteigen etwa 200 süddeutsche und über 300 Schweizer Klimastreikende in Aachen wieder den Sonderzug, mit dem sie am Freitagmorgen angekommen sind. Es ist ein wunderschöner alter Zug mit Sechserabteilen und dick gepolsterten Sesseln – und man kann die Fenster öffnen. An allen grösseren Bahnhöfen auf dem Weg hängen ausgelassene Jugendliche aus den Fenstern und skandieren die Parolen, die sie gerade gelernt haben. Die vielleicht schönste: «Es gibt! Kein Recht! Auf Kohlebaggerfahren!» Viele legen sich bald kreuz und quer in die Abteile, um Schlaf nachzuholen. Aber auch jetzt wirkt die Klimastreikbewegung nicht wie ein Partytrupp auf dem Heimweg, sondern viel ernsthafter. Als das Wasser knapp wird, organisieren einige in Karlsruhe Nachschub. Über die Zugdurchsage bietet das Care-Team seine Dienste an. Manche massieren einander oder spielen Karten. Nur wenige trinken Alkohol.

Nicola Siegrist sieht zufrieden aus. Der Zürcher Geografiestudent und Juso-Kantonsrat war mit dem goldenen Finger in der Grube. «Ich war mit acht Leuten unterwegs, alle völlig unerfahren. Aber es hat super funktioniert, weil wir uns hundert Prozent aufeinander verlassen konnten.» Ihn beeindruckt die ausgeklügelte Logistik von Ende Gelände, das gut organisierte Camp für mehrere Tausend Leute, in dem auch während der Aktionen Hunderte von Leuten bleiben – und zum Beispiel in kurzer Zeit zehn Busse organisieren, weil die Polizei eine Gruppe nicht mit dem Zug Richtung Tagebau fahren lassen will. Und er ist begeistert von der Stimmung im goldenen Finger: «Alle helfen sich gegenseitig, wenn jemand eine Staubmaske oder Wasser braucht.» Am schönsten sei es immer, wenn Neuigkeiten von anderen Fingern einträfen: «Als wir erfuhren, dass der grüne Finger schon 24 Stunden die Kohlebahn blockiert, brach die grosse Euphorie aus. Du merkst: Du bist Teil von etwas Grösserem.»

Der 22-Jährige steckt seit Monaten einen grossen Teil seiner Zeit in die Klimastreikbewegung und sitzt auch in der Redaktion des neuen Magazins «netto.null». Dass sich dreissig Leute vom Klimastreik Schweiz bei Ende Gelände beteiligt hätten, werde Folgen haben, ist er sich sicher. «Wir haben viel gelernt dabei. Das wird uns spätestens nächstes Jahr zugutekommen.» Denn «2020 beginnt der Aufstand» – so der Slogan der internationalen Klimabewegung. Dann will sie konfrontativer werden und mehr gewaltfreie direkte Aktionen organisieren, falls die Politik bis dann zu wenig handelt.

Es geht nicht ums Alter

«Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein», sang die deutsche Band Tocotronic 1995 mit der trotzigen Enttäuschung jener, die nicht mehr daran glauben, dass so etwas möglich ist. Jetzt ist sie definitiv zurück, die Jugendbewegung – und viel grösser, als es jemand ahnen konnte.

Allerdings möchte sie keine Jugendbewegung bleiben: Niemand scheint hier das Bedürfnis zu haben, sich gegen Erwachsene generell abzugrenzen. «… weil ihr uns die Zukunft klaut» ist keine Ansage an eine bestimmte Altersgruppe. Das hat etwa eine Mutter erlebt, die sich in der Schweiz an Klimastreiks beteiligt und mit ihrer Tochter mit dem goldenen Finger unterwegs war. «Ich fühle mich willkommen, und mein Alter ist kein Thema.» Inzwischen gibt es in mehreren Städten Erwachsenengruppen. Sie nennen sich People for Future.