Stadtroman: Berlin von unten

Nr. 27 –

Geschichten aus dem gentrifizierungsgeplagten Berliner Viertel Wedding: Gut recherchiert, ohne Plattitüden – und doch seltsam monoton.

Wohnt Gott im Wedding? Neben den Verfolgten und Habenichtsen spielt im Roman auch die Gentrifizierung eine zentrale Rolle. Hinterhof am S-Bahnhof Müllerstrasse. Foto: Muhs, Keystone

Regina Scheer, Jahrgang 1950, gehört zu jenen SchriftstellerInnen, die sich zwar ihr ganzes Leben mit Literatur beschäftigt haben, aber erst mit über sechzig einen eigenen Roman vorlegen. Ihr 2014 veröffentlichtes Debüt zeigt, warum es sich lohnen kann, so lange zu warten. Der Roman «Machandel» verdichtet DDR-Geschichte, Landschaftserzählung und Reflexionen über ein Kindermordmärchen zu einem spannenden Familienroman, in dem von den Widersprüchen zwischen der DDR-Gründergeneration und ihren dissidenten Kindern erzählt wird. Man lernt hier mehr über ostdeutsche Geschichte als in sämtlichen Gedenkpublikationen, die zum 30. Jahrestag des Mauerfalls gerade erscheinen.

Das Haus kommt zu Wort

Nun hat Scheer mit «Gott wohnt im Wedding» einen zweiten Roman nachgelegt, der sich erneut bemüht, jüngere deutsche Geschichte aus der Perspektive der VerliererInnen zu erzählen. Im Mittelpunkt des Buchs steht ein Wohnhaus im Wedding, einem der proletarischsten und internationalsten Viertel Berlins. Scheer lässt das Haus im Roman auch immer wieder selbst zu Wort kommen – was als literarisches Mittel allerdings nicht überzeugt, weil die Passagen weder einen Spannungsbogen entwickeln noch eine eigene sprachliche Form besitzen.

Ausgehend vom Wohnhaus, werden die Lebensgeschichten seiner BewohnerInnen erzählt. Da ist die aus Polen übergesiedelte Laila, die aus einer deutschen Sintifamilie stammt und nun den neu zugezogenen Romanachbarinnen bei Behördengängen hilft. Die Rentnerin Gertrud, die seit fast einem Jahrhundert im Mietshaus wohnt und noch heute darunter leidet, dass ihr jüdischer Freund Manfred von den Nazis gefasst und ins Vernichtungslager deportiert wurde – obwohl sie ihn eine Weile versteckt hat, fühlt sie sich mitschuldig an seinem Tod. Und dann ist da noch Leo, ein weiterer Freund Manfreds, der den Nationalsozialismus überlebte, indem er sich in Berliner Kellern und Dachböden versteckte, und dann nach Israel auswanderte. Als Greis kommt er zum ersten Mal wieder nach Deutschland, wo seine israelische Enkelin ein hippes Zuhause gefunden hat. Und natürlich kreist der Roman auch darum, ob und wie Manfred und Gertrud sich wieder begegnen werden.

Die Figurenskizzen weisen schon darauf hin: «Gott wohnt im Wedding» ist der Versuch, eine Stadtgeschichte Berlins zu erzählen, bei der die sozialen Verhältnisse konsequent und ohne distanzierende Ironie aus der Perspektive von Verfolgten, Geflüchteten und Habenichtsen wiedergegeben werden. Dementsprechend spielt auch die Gentrifizierungswelle, die die Mieten im einst abgehängten Wedding seit einigen Jahren explodieren lässt, eine wichtige Rolle im Roman.

Ordentlich durchgeschüttelt

Diese ganze Anlage hätte leicht zu einer Aneinanderreihung von Klischees führen können, aber Scheer, die seit langem zu jüdischer Kultur, Stadtgeschichte und NS-Herrschaft schreibt, weiss so differenziert über Berlin und seine BewohnerInnen Bescheid, dass ihre Erzählung randständiger Realität nicht zur Plattitüde verkommt. Das Problem ist ein anderes: Zum einen muss man feststellen, dass der neue Roman Scheers sprachlich deutlich hinter «Machandel» zurückbleibt. Er ist in einer soliden, auf Dauer aber monotonen Sprache heruntererzählt. Der Stadtteil, um den «Gott wohnt im Wedding» doch eigentlich kreist, erwacht nicht zum Leben. Man erfährt, was Personen tun, woher sie stammen, mit welchen Problemen sie konfrontiert sind. Aber ein Gefühl davon, wie der Wedding tickt, welches Tempo, welche Bilder und Stimmungen das Viertel ausmachen, wie es riecht, bekommt man nicht.

Das zweite grundlegende Problem ist die Konstruktion der Figuren: Von den Verhältnissen um sie herum werden sie zwar ordentlich durchgeschüttelt, doch es gibt kaum dunkle Seiten an ihnen, was sie zwar zu liebenswerten NachbarInnen, aber zu ungeeigneten ProtagonistInnen macht. Obwohl die Biografien gut recherchiert und glaubwürdig sind: Den Figuren fehlt es an inneren Widersprüchen, die sie gegeneinander in Stellung bringen.

Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding. Penguin Verlag. München 2019. 416 Seiten. 35 Franken