Marlene Streeruwitz: Liebe in Zeiten des Rechtspopulismus

Nr. 28 –

Sexismus als Fundament: In ihrem neuen Roman «Flammenwand» führt die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz mit schmerzhafter Klarheit vor, warum das Verhältnis der Geschlechter die Grundlage aller Politik ist.

Marlene Streeruwitz: Wo liesse sich das Verhältnis der Geschlechter besser untersuchen als im Liebesroman? Foto: Marija Kanizaj

Marlene Streeruwitz hat es wieder getan. Auch in ihrem neuen Roman «Flammenwand» hetzt sie ihre Heldin beinahe zu Tode. Diesmal geht es um Adèle, eine Frau Anfang fünfzig, die dumm genug ist, an die Liebe zu glauben. Die Liebe heisst Gustav, ist Steuerfahnder, geschieden, lebt in Berlin und fordert Adèle auf, mit ihm für ein halbes Jahr nach Stockholm zu ziehen. Dort erfährt Adèle, dass es noch eine andere Frau gibt. Gustav führt ein Doppelleben.

Dieser gewöhnliche Liebesverrat, den wir aus tausend und mehr Geschichten kennen, ist für Streeruwitz Ausgangspunkt für eine Psychoanalyse des gegenwärtigen Rechtspopulismus. Im Visier hat die Autorin die «rechtsradikale Regierung» Österreichs mit ihrem «Kinderkanzler» Sebastian Kurz. Dass diese Regierung nun just in dem Moment abtreten musste, als Streeruwitz’ Roman erschien, macht die Lektüre etwas leichter. Denn Streeruwitz führt uns vor, wie diese Regierung Tag für Tag daran arbeitete, Diskriminierung und Gewalt gegen bestimmte Gruppen zu legitimieren, um die eigene Macht zu stärken. In einem über vierzig Seiten starken Anhang protokolliert Streeruwitz den systematischen Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat und zeigt, dass die Ibiza-Affäre nur die Spitze des Eisbergs ist; eines Eisbergs allerdings, der zu keiner Zeit unsichtbar war.

Alles dreht sich um den Vater

Dieser Anhang ist der eigentliche Geniestreich des Romans. Er erklärt die politische Lage, in der sich die Autorin und die Protagonistin gleichermassen befinden. Und er wirft jene Frage auf, die der Roman beantwortet: Wie kann es sein, dass so eine Regierung im 21. Jahrhundert mehrheitsfähig ist?

Um diese Frage zu beantworten, führt uns Streeruwitz in die tiefenpsychologischen Abgründe der österreichischen Gesellschaft. An der Biografie ihrer Heldin zeigt sie, wie stark diese Gesellschaft nach wie vor in der nationalsozialistischen Ideologie verwurzelt ist. Die Familienordnung war leicht zu verstehen: Alles dreht sich um den Vater. «Er war ein Mittelpunkt gewesen und hatte sich auf andere Mittelpunkte beziehen können.» Nach aussen gibt er sich als Humanist, zu Hause wirkt er als Despot. Der Sohn wird verprügelt, Frau und Tochter behandelt er mit «freundlicher Verachtung». Damit praktiziert er im Kleinen, was von der grossen Politik vorgelebt wird. Und stellt gleichzeitig die Reproduktion des Systems sicher, weil durch diese Erziehung schon die nächste Generation von autoritätsgläubigen Wählerinnen und Wählern herangezüchtet wird: «Wenn du mir bedingungslos folgst, dann bist du schon gerettet, sagt diese Erziehung. Und dann kommt sie nie. Die Rettung.» Die selbstlose und sinnlose Hingabe an autoritäre Führerfiguren ist programmiert. Und auch in der Liebe folgt die Frau diesem Programm. «Sie war einem Demagogen in die Hände gefallen», bringt die betrogene Adèle ihre gescheiterte Beziehung auf den Punkt.

So weit, so aufschlussreich. Doch wer Streeruwitz kennt, weiss, dass sie sich niemals mit der Aufdeckung von Allgemeinplätzen zufriedengeben würde. Seit vielen Jahrzehnten ergründet diese Autorin die Zusammenhänge von Macht und Geschlecht. Auch diesmal führt sie uns mit schmerzhafter Klarheit vor, dass das Verhältnis der Geschlechter die Grundlage aller Politik ist. Und wo könnte man das Verhältnis der Geschlechter besser untersuchen als im Liebesroman? Adèles Tragödie verläuft nach dem bekannten Schema: Frau liebt Mann, Frau vertraut Mann, Mann betrügt Frau, Frau stürzt in die Krise. «Es war wie ein Roman aus 1820 gewesen», kommentiert Adèle ihre eigene Geschichte, und später: «Sie stellte sich den Schluss von Anna Karenina vor.»

Der Roman zeigt, dass dieses Verhältnis keineswegs zufällig oder natürlich ist, sondern Ergebnis einer Zurichtung. Wobei die Rollen nach wie vor klar verteilt sind: Der Mann ist der Mittelpunkt, die Frau bleibt auf den Mann bezogen. Der Mann ist der Parasit, die Frau wird benutzt. Denn auch in der Liebe geht es dem autoritär erzogenen Mann um Macht: «Herrschaft. Die stellt sich aus der Gewalt gegen andere ausserhalb her und aus der Gewalt innerhalb der herrschenden Gruppe um die Herrschaft. Zuerst Grenzen hochziehen und aussperren. Und dann innerhalb der Grenzen der Kampf. Gustav war gewalttätig gegen Frauen mit seinem Lügen, und die Frauen waren gewalttätig gegeneinander.» Dass die systematische Gewalt gegen Frauen längst nicht vorbei ist, zeigt wiederum der Anhang: Die Regierung bemühte sich um Einsparungen bei der Gewaltprävention, Einsparungen bei den Frauenhäusern, Kürzungen der Gelder von Kinderbetreuung. Die Geschlechterordnung der Nazizeit hat nicht nur in den Körpern und Seelen der Menschen überdauert, sie wird durch Regierungsmassnahmen gezielt erhalten.

Nicht nur in Österreich

Das ist nicht nur für die Liebe problematisch. Auch echte Demokratie ist ohne die Gleichstellung der Geschlechter nicht zu haben. Denn wird erst einmal eine Gruppe diskriminiert, dann ist der demokratische Grundsatz der Gleichheit schon aufgegeben: «Wenn nicht alle gleich waren, dann waren alle nicht gleich. Dann konnte das ausgedehnt werden. Bis alle abgeholt waren. Und alle leibesvisitiert und invasiv untersucht waren. Total überprüft und der Chip eingesetzt und über den Chip ein Stromschlag. Jederzeit.» Die Diskriminierung der Frauen ist deshalb kein Nebenschauplatz rechtspopulistischer, antidemokratischer Politik. Sie ist das Fundament, auf dem sich ein totalitärer Staat errichten lässt – ein Staat, der schliesslich aus jeder und jedem einen Flüchtling, eine Verhetzte machen kann.

Was Streeruwitz am Fall Österreich analysiert, ist keineswegs auf diese eine Regierung, auf dieses eine Land beschränkt. Gustav ist aus Deutschland, der Roman spielt in Stockholm. Für Adèle gibt es kein Entkommen: Ihre Krise ist europäisch, vielleicht sogar universell. Es ist die Krise einer Regierungsform, die Gleichheit propagiert, sie aber konsequent verhindert. Und die das kann, weil Sexismus ein Fundament ist, auf das man bauen kann.

Streeruwitz ist eine Autorin, die sich politisch einmischt und die ihre feministische Kritik an den Machtverhältnissen im Allgemeinen sowie an der österreichischen Regierung im Speziellen auch ausserhalb der Literatur kundtut. Mit diesem Roman aber zeigt sie einmal mehr auf grossartige Weise, dass letztlich nur eine fiktionale Geschichte die komplexen Zusammenhänge von Macht, Geschlecht, Identität und der verführerischen Kraft populärer Erzählkonventionen ausloten – und aushebeln – kann. «Flammenwand» sollte überall dort zur Pflichtlektüre erklärt werden, wo «politische Bildung» draufsteht. Es ist ein Meisterinnenwerk!

Marlene Streeruwitz: Flammenwand. Roman mit Anmerkungen. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2019. 416 Seiten. 34 Franken