Foodwaste: Was wird hier eigentlich «gerettet»?

Nr. 29 –

Letzten Sommer verkaufte der Zürcher Verein Grassrooted in einer Grossaktion 28 Tonnen überschüssige Tomaten. Jetzt bietet er «gerettetes» Gemüse im Abo an. Profitiert der Verein von den Strukturen, die er bekämpfen will – und verdrängt so kleinere ProduzentInnen?

«Wenn es mir nur ums Geldverdienen ginge, würde ich etwas anderes machen.» Vereinsmitgründer Dominik Waser im Grassrooted-Gemüselager.

Ende Juni trifft ein anonymer Brief auf der WOZ ein. Unterzeichnet ist er mit «ein Zürcher Biobauer», und er klingt ziemlich verzweifelt. Es geht darin um sogenannte Gemüserettung: «Seit rund einem Jahr gibt der Verein Grassrooted vor, dass er Foodwaste bekämpfen möchte. Das Gemüse bezieht er zu 99 Prozent vom Zürcher Biobetrieb Rathgeb – zu einem Spottpreis, versteht sich – und verkauft es zu stolzen Preisen weiter.» So zerstöre Grassrooted «den übrig gebliebenen Biomarkt». Denn «wer sein Gemüse bis anhin nicht im Supermarkt, sondern auf dem Markt gekauft hat, hat jetzt scheinbar eine Alternative: Foodsaving mit Grassrooted».

Grassrooted? Im Sommer 2018 wurde der Zürcher Verein auf einen Schlag im ganzen Land bekannt: Er verkaufte in wenigen Tagen 28 Tonnen überschüssige Biotomaten, die sonst in der Biogasanlage gelandet wären. Fast alle Medien berichteten und überschütteten das Projekt mit Lob. Später hatte Grassrooted einen Gemüsestand am Bahnhof Zürich, inzwischen vertreibt der Verein das «gerettete» Gemüse im Abo: alle zwei Wochen sechs Kilo, jederzeit kündbar. Mit bereits über tausend Abos gehört er schweizweit zu den grösseren Gemüseaboanbietern. Auf seiner Website schreibt der Verein: «Wir stehen ein für eine gerechtere Welt.» Er propagiert Prinzipien der Permakulturbewegung – «Earth Care», «People Care» und «Fair Share» – und betont: «Wir sind überzeugt von kleinen, lokalen Kreisläufen und Strukturen und möchten diese auch leben.» Das sind hohe Ansprüche – wie passen sie zum Vorwurf, Grassrooted zerstöre den Kleinen den Markt, wie es der anonyme Biobauer anprangert?

Der Zürcher Ökonom Martin Schiller hat Grassrooted mitgegründet. «Anfang 2018 sassen Dominik Waser, Valeria Falletta und ich zusammen und überlegten: Was können wir hier in Zürich gegen Foodwaste tun?», erzählt er. «Wir kontaktierten zwischen zwanzig und dreissig Biogemüsebetriebe. Aber alle kleineren sagten, sie hätten kein Problem mit Foodwaste.» Das schreibt auch der anonyme Biobauer: «Wir kleinen Bauern schliessen die Kreisläufe mit Schweinen auf dem Hof, mit Hühnern, mit aktiver Kommunikation mit den Konsumenten.» Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem jungen Verein zeigte dagegen ein grosser Betrieb: Rathgeb im Zürcher Weinland.

Knallharter Markt

Christian Rathgeb ist der grösste Biogemüseproduzent der Schweiz. Aus der Direktzahlungsstatistik des Bundes lässt sich herauslesen, dass er 430 Hektaren selbst bewirtschaftet und über eine halbe Million Franken Direktzahlungen bekommt. Ausserdem sitzt er, teils als Präsident, in den Verwaltungsräten von sechs Aktiengesellschaften, die Gemüse und Beeren anbauen, von anderen ProduzentInnen kaufen, rüsten, verpacken und vertreiben. Rathgebs E-Mails auf die Anfragen der WOZ wirken gestresst. Eine Besichtigung sei wegen zu viel Arbeit nicht möglich. Auch Zahlen zu Fläche, Umsatz und Angestellten will er nicht herausgeben. Allgemein bekannt ist, dass in der Hochsaison mehrere Hundert Leute auf den Feldern, in den Gewächshäusern und im Abpackbetrieb arbeiten.

Alles Biogemüse, das Coop vertreibt, kauft der Grossverteiler über die Vermarktungsplattform Alliance Suisse Bio ein. Es gibt also nur noch einen einzigen Ansprechpartner für BiogemüseproduzentInnen, die an Coop liefern wollen. Innerhalb von Alliance Suisse Bio dominieren Rathgeb und die Firma Terraviva in Kerzers FR.

Und der Markt ist knallhart. Das hat etwa David Jacobsen vom Gut Rheinau ZH zu spüren bekommen. Der Betrieb hat das anthroposophisch geprägte Demeter-Label, das strenger ist als die Bio-Knospe. Seit 2016 vertreiben auch Coop und Migros Demeter-Produkte. Letzten Sommer lieferte Jacobsen Artischocken – eine sehr aufwendige Gemüsekultur – für die Grossverteiler an die Rathgeb-Firma Biolog. «Ich sagte, ich brauche mindestens 9 Franken pro Kilo, sonst kann ich nicht kostendeckend produzieren. Wir vereinbarten 10.65. Aber in der vierten Woche senkte Rathgeb Biolog den Preis auf 6.85 – rückwirkend auf die dritte Woche. Und sie wollten nur noch Blüten mit mehr als vier Zentimeter Durchmesser. Nicht einmal die Hälfte meiner Ernte war so gross.» Jacobsen weigerte sich, die Preissenkung zu akzeptieren. «Daraufhin hiess es, ich könne die bereits gelieferten Artischocken wieder abholen.» Jacobsen sagt, er habe mit Betreibung gedroht und schliesslich einen grossen Teil des vereinbarten Geldes bekommen. Christian Rathgeb möchte zum Vorfall nicht Stellung nehmen.

Weil das Gut Rheinau sein Gemüse direkt vertreibt, konnte sich Jacobsen den Streit mit Rathgeb leisten. Viele BiogemüseproduzentInnen haben diese Freiheit nicht: Mindestens achtzig Prozent des Biogemüses werden bei den Grossverteilern gekauft, schätzt der Branchenverband Bio Suisse. «Ich will Rathgeb nicht anprangern», sagt Gemüsebauer Jacobsen. «Der Druck kommt von den Grossverteilern, Rathgeb gibt ihn an die Lieferanten weiter. Die Probleme sind strukturell – solange die Grossverteiler so funktionieren wie heute, jederzeit alles im Regal haben müssen …» Ein Ostschweizer Bauer, der anonym bleiben will, sieht es ähnlich: «Ich finde es nicht okay, wie Rathgeb mit seinen Zulieferbetrieben umgeht – aber in der Branche ist das normal. Die Strukturen schaffen eine extreme Abhängigkeit. Der Bauer ist immer am kürzeren Hebel.»

Traumhafte Marge

Jederzeit alles im Regal – das geht nur, wenn Überschüsse eingeplant werden. Denn das Wetter ist unberechenbar, die genaue Produktionsmenge lässt sich unmöglich voraussagen. Zwischenhändler wie Rathgeb, die an die Grossverteiler liefern, garantieren aber vertraglich festgelegte Mengen – wenn sie nicht liefern können, müssen sie eine Busse bezahlen, die sogenannte Konventionalstrafe. Darum planen sie bewusst zu hohe Mengen, damit sie auch in einem schlechten Anbaujahr auf hundert Prozent kommen. «Das sind die Mengen, die in einem guten Jahr den Markt stören können», sagt Ilona Stoffel, Produktmanagerin Gemüse bei Bio Suisse. Dazu kommt noch das ganze Gemüse, das aussortiert wird, weil es nicht schön genug ist, nicht in die Verpackung oder die Verarbeitungsmaschinen passt.

Die Überschüsse sind also strukturell bedingt. Wer sie «rettet», ändert damit noch nichts an den Strukturen.

Das sieht mittlerweile auch Martin Schiller so. Der Grassrooted-Mitgründer ist im Frühling aus dem Verein ausgestiegen und kritisiert ihn harsch: «Grassrooted konkurrenziert mit seinem Gemüseabo kleine Biobetriebe und Projekte der solidarischen Landwirtschaft wie Ortoloco. Das kann ich nicht mittragen.» Je mehr er Einblick in die Strukturen des Biogemüsemarkts erhalten habe, desto mehr habe er gezweifelt, ob es sinnvoll sei, die Überschüsse von Rathgeb weiterzuverkaufen. Schiller bestätigt, was im anonymen Brief steht: Grassrooted hat eine Marge, von der andere nur träumen können. «Der Verein bezieht Gemüse von Rathgeb pauschal für 1.50 pro Kilo und vertreibt es im Abo für 5 Franken pro Kilo.»

Das schenkt ein: Eine Kalkulation, die der WOZ vorliegt, geht bei tausend Abos von über 318 000 Franken Bruttoertrag (Produkt-, Transport- und Materialkosten sind also bereits abgezogen) pro Jahr aus. Davon geht ein Drittel an Grassrooted, ein Drittel an die Fairtradefirma Gebana, die die Abos verwaltet, und ein Drittel an die kleine Bioladenkette Bachser Märt, die für Logistik, Verpacken und Versand zuständig ist.

Der Idealist plant gross

Auf Dominik Wasers rechtem Arm prangt eine Farnpflanze. Auf dem linken steht «permanent culture»: Da ist sie wieder, die Permakultur. Nach dem Ausstieg der anderen beiden MitgründerInnen vertritt Waser den Verein Grassrooted jetzt allein. Der 21-Jährige hat eine Mission, das ist sofort spürbar. Besser gesagt: Er hat mehrere. Unter der Windschutzscheibe des Grassrooted-Lieferwagens liegt ein Schild mit dem Logo von Extinction Rebellion neben einer Fahne der Gletscherinitiative. Klimabewegung, Juso und Grassrooted, das gebe zurzeit viel mehr als ein Hundertprozentpensum, sagt Waser. Er holt sofort weit aus, spricht über Humusaufbau, Saisonalität und Regionalität, prangert die fehlende Wertschätzung für das Essen und den Druck auf die GemüseproduzentInnen an. «Das System Supermarkt mit seinen zwei grossen Playern ist das Hauptproblem.»

Was sagt Waser zum Vorwurf, sein Gemüseabo konkurrenziere ausgerechnet kleine BioproduzentInnen? «Unsere Abonnenten sind zu einem grossen Teil Leute, die sonst in den Coop gehen würden. Mit dem Abo unterstützen sie mich, damit ich einen Systemwandel in Gang setzen kann. Ich möchte nicht die bereits sensibilisierten Leute ansprechen, sondern neue sensibilisieren.»

Kontrollieren, wo die AbonnentInnen vorher eingekauft hätten, könne er aber nicht, räumt er ein. Das Abo sei ohnehin nur ein Zwischenschritt: «Langfristiges Ziel ist eine Kooperative, die direkt mit Produzenten zusammenarbeitet.» Und zwar mit solchen, die aus dem Grossverteiler-Zuliefersystem aussteigen wollten oder schon ausgestiegen seien. «Damit ein solcher Produzent umsteigen kann, muss ich ihm garantieren können, dass ich seine Ware abnehme. Mit dem erfolgreichen Abo zeige ich, dass die Nachfrage da ist.» Waser bestätigt, dass Grassrooted, Gebana und Bachser Märt mit 318 000 Franken Bruttoertrag für die tausend Abos rechnen. Und dass ein Grossteil des Gemüses im Abo von Rathgeb stammt – um in der Branche etwas zu verändern, müsse er auch mit den Grossen zusammenarbeiten.

Mit einem Kooperativenprojekt würden sich allerdings zwei fundamentale Dinge verändern: Das Gemüse wäre nicht mehr «gerettet», sondern würde eigens für die Kooperative angebaut. Und die luxuriöse Marge würde zusammenschrumpfen – Waser will den ProduzentInnen ja faire Preise bezahlen. Das sei kein Problem, versichert er. «Ich verzichte gern auf diese Marge. Wenn es mir nur ums Geldverdienen ginge, würde ich etwas anderes machen.»

Doch es geht nicht nur ums Geld: Grassrooted läuft auch Gefahr, zum Werbeträger der Grossverteiler zu werden. So wie letztes Jahr, als der Zwischenhandel einem Zürcher Biobauern seine Rüebli nicht abnahm, weil sie zu gross für die Verpackung des Grossverteilers waren. Grassrooted startete eine Aktion, um Saft zu pressen – und die wurde in den sozialen Medien so populär, dass Coop diesen Saft unbedingt haben wollte. So gab es Biotta-Rüeblisaft im Coop zu kaufen – mit dem Grassrooted-Logo. Lebt der Verein vom System, das er bekämpfen will? «Momentan ja», sagt Waser. «So wie alle. Das ist nur vertretbar, wenn man das Gegenteil als Ziel vor Augen hat. Jeder und jede unterstützt mit Steuergeldern dieses System.»

Um wirklich etwas zu verändern, müsse er mindestens zwei Millionen KonsumentInnen für das Thema Foodwaste sensibilisieren, sagt er. Idealismus, Begeisterung, effiziente Organisation und ein Hauch Grössenwahn: Dominik Waser ist wohl ein typischer Vertreter der Generation Klimastreik. Vielleicht wird er einfach ein erfolgreicher Start-up-Unternehmer. Oder er gründet tatsächlich eine solidarische Kooperative – und macht die Versprechen wahr, die bisher uneingelöst auf der Grassrooted-Website stehen.

Wo verschwendet wird

Je stärker ein Lebensmittel verarbeitet und je weiter es transportiert wurde, desto grösser ist die Verschwendung, wenn es nicht gegessen wird. Das betont das Bundesamt für Umwelt (Bafu): «Lebensmittelabfälle am Ende der Wertschöpfungskette (Haushalte, Gastronomie, Detailhandel) weisen durchschnittlich eine höhere Umweltbelastung auf.» Am wichtigsten sei es, die Verschwendung von tierischen Produkten und weit gereisten Importwaren zu reduzieren. Am meisten Foodwaste fällt laut verschiedenen Studien in den Haushalten und in der Verarbeitungsindustrie an.