5G-Mobilfunk: «Je tiefer die Grenzwerte, desto mehr Antennen»

Nr. 32 –

Das 5G-Netz spaltet die Geister. Sind die Grenzwerte für den Mobilfunk zu tief oder zu hoch? Was ist weniger gesundheitsschädigend: tiefere Grenzwerte und dafür mehr Antennen – oder umgekehrt? Ein Gespräch mit dem Strahlenschutzexperten Martin Röösli.

Möchte die Art, wie Strahlengrenzwerte gemessen und durchgesetzt werden, umkrempeln: Umweltepidemiologe Martin Röösli mit Messgerät.

WOZ: Herr Röösli, Sie sind der Elektrosmogexperte Nummer eins im Land. Ihnen wird auch vorgeworfen, Sie stünden der Telekombranche nahe. Machen Sie Auftragsforschung?
Martin Röösli: Das hat erst kürzlich eine Zeitschrift geschrieben. Aber es ist nicht wahr. Meine Forschungsgruppe arbeitet mit öffentlichen Mitteln und Geldern von Forschungsstiftungen. Im konkreten Fall ging es um zwei Ausschreibungen, an denen wir teilgenommen haben. Wir haben das Thema gesetzt, nicht die Stiftung. Das ist keine Auftragsforschung.

Mischt sich die Branche nicht ein?
Klar tut sie das. Wir haben einmal untersucht, wie die Finanzierungsquellen die Studien beeinflussen. Das Resultat: Studien, die nur von der Industrie finanziert werden, berichten signifikant seltener über biologische Effekte. Studien, die keine Finanzierungsquelle angeben – oft Pilotstudien von engagierten Forschern –, finden hingegen signifikant häufiger biologische Effekte; die Qualität dieser Studien ist aber eindeutig schlechter.

Aktuell wird um das 5G-Netz gestritten. Die Branche verlangt höhere Grenzwerte, die Gegner tiefere. Sind sie zu hoch, zu tief?
Ich sitze in zwei Gremien, die sich mit Grenzwerten beschäftigen – das eine mit Lärm, das andere mit Mobilfunkstrahlung. Beim Lärm sind die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) viel tiefer als die Schweizer Grenzwerte. Beim Lärm wie bei der Luftbelastung weiss man: Je tiefer die Belastung, desto besser. Beim Mobilfunk ist es nicht die WHO, sondern die Internationale Kommission für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP), die die Richtlinien erlässt. Die Schweiz hat diese Grenzwerte übernommen, aber zusätzlich noch viel tiefere Anlagegrenzwerte eingeführt.

Sie sind Mitglied der ICNIRP. Setzen Sie sich dort dafür ein, dass der tiefe Schweizer Grenzwert allgemeingültig wird?
Ich bin für Strahlenvorsorge – das ist mein Credo. Das Problem ist aber ein ganz anderes: Wenn man beim Lärm oder bei der Luftbelastung tiefere Grenzwerte erlässt, werden die Motoren leiser und geben weniger Schadstoffe ab. Davon profitieren alle. Doch wenn wir für Mobilfunkantennen tiefere Grenzwerte setzen, führt das dazu, dass mehr Antennen aufgestellt werden, um die Kommunikation zu befriedigen, die von den Handys nachgefragt wird. Es gibt dadurch nicht weniger Antennenstrahlung, sie wird einfach anders verteilt.

5G-Gegner argumentieren, jede Ecke in einem Haus mit Mobilfunk abzudecken, sei falsch. Die Häuser sollten mit Glasfaser erschlossen werden, dann sinke auch die Strahlenbelastung, weil der Mobilfunk nicht Betonmauern durchdringen müsse.
Das Konzept klingt gut. Die Frage ist aber: Was passiert, wenn die Leute im Haus trotzdem mit dem Handy telefonieren? Ist die Verbindung schlecht, werden sie viel stärker belastet. Will man keine Strahlung im Haus, müsste man das Handy sofort abstellen, sobald man ins Haus kommt. Sonst sucht es ständig nach dem Netz und strahlt relativ stark, wenn die Abdeckung schlecht ist. Bei schlechter Verbindung bekommt man 100 000-mal mehr Strahlung ab. Deshalb bin ich nicht überzeugt, dass man mit dieser Strategie die Strahlenbelastung der Bevölkerung senken kann.

Strahlen 5G-Antennen punktuell nicht viel stärker?
Ja. Das passiert aber nur in einem kurzen Moment, wenn zum Beispiel ein Film heruntergeladen wird. Das ist aber nichts, verglichen mit dem, was die Leute abbekommen, wenn sie telefonieren. Beim Telefonieren bekommt der Kopf bis zu 2 Watt pro Kilogramm (W/kg) ab, die Ganzkörperstrahlenbelastung durch Antennen darf beim schweizerischen Anlagegrenzwert maximal 0,0008 W/kg betragen. Im Normalfall ist sie aber deutlich tiefer.

800 000 Menschen in der Schweiz sollen elektrosensibel sein. Stimmt die Zahl?
Diese Zahl wurde hochgerechnet aus einer Befragung, die wir vor vielen Jahren bei Erwachsenen gemacht haben. Dabei haben wir gefragt, ob die Befragten Symptome auf elektromagnetische Felder zurückführen. Rund acht Prozent haben das bejaht. Die Zahl sagt aber nichts darüber aus, wie stark die Symptome sind und ob die elektromagnetischen Felder wirklich deren Ursache sind. Aufgrund der vielen Studien würde ich sagen: In weit über 95 Prozent der Fälle ist es nicht objektivierbar.

Die Beschwerden kommen nicht von der Strahlung?
Bei diesen tiefen Strahlungswerten nicht. Aber die Forschung kann natürlich nicht beweisen, dass es etwas nicht gibt.

Plädieren Sie jetzt für tiefere oder höhere Grenzwerte?
Wenn wir die heute geltenden Grenzwerte behalten, bedeutet das, dass viel mehr Antennen aufgestellt werden müssen.

Das wäre doch sinnvoll, weil die Abdeckung besser wird und dadurch auch Vieltelefonierende weniger abbekommen.
Für die Vorsorge ist das auf jeden Fall besser. Aber dann wird jede Antenne so aufgestellt, dass genau der Grenzwert eingehalten wird. Je tiefer der Grenzwert, desto mehr Leute werden nahe an einer Antenne leben und relativ hoch belastet werden.

Würde das bei einem höheren Grenzwert nicht auch passieren?
Dann gibt es ein paar Leute, die mehr abbekommen als heute. Aber das werden viel weniger sein als bei einem tieferen Grenzwert, weil eine Antenne mit höherem Grenzwert ein viel grösseres Gebiet abdeckt. Wir haben kürzlich in einer Untersuchung festgestellt, dass die Umweltstrahlenbelastung in allen Ländern etwa gleich gross ist – egal ob in einem Land ein hoher oder ein tiefer Grenzwert gilt. Die Dichte des Netzes und die Anzahl Nutzer bestimmen die Strahlenbelastung, nicht der Grenzwert. Der wird meistens gar nicht erreicht. Und das wird auch in Zukunft so sein. Vieles, was man heute Kritisches über 5G liest, bezieht sich auf ein Netz, das mit 25 Gigahertz arbeitet, also mit sehr hochfrequenten Millimeterwellen. Das hat mit dem, was im Moment installiert wird, wenig zu tun – da sind wir bei etwa 3 bis 4 Gigahertz. Ich bezweifle, dass der sehr hochfrequente Mobilfunk bei Handys je zum Einsatz kommt. Da denkt man an andere Anwendungen.

Das Netz könnte genutzt werden, um autonom fahrende Fahrzeuge zu lenken.
Das stimmt, wenn das wirklich mit 25 Gigahertz käme, entstünde relativ viel Strahlung. Ein solches Netz würde jedoch enorm teuer. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass das kommt. Aber wer hätte vor zwanzig Jahren gedacht, was wir heute alles haben? Das sind aber die entscheidenden Fragen für die Gesellschaft, wenn man die zukünftige Strahlenbelastung beeinflussen will. Ob 5G oder nicht, ist die falsche Diskussion.

Heute gilt in der Schweiz ein Anlagegrenzwert von 4 bis 6 Volt pro Meter (V/m). Die Branche sagt, der Grenzwert sei hinderlich. Was antworten Sie darauf?
Ich finde, wir sollten ein System haben, das Anreize schafft, dass die Belastung minimiert wird. Wenn das mit den Anlagegrenzwerten erreicht werden kann, ist das sinnvoll. Am Schluss ist aber entscheidend, wie man den Grenzwert misst. Im Moment wird ja sehr konservativ gemessen.

Können Sie das erklären?
Es gibt die sogenannten Omen, Orte mit empfindlicher Nutzung: Wohnungen oder Arbeitsplätze in unmittelbarer Nähe zur Antenne. An diesen Orten dürfen im Worst Case diese 4 bis 6 V/m nicht überschritten werden. Nun strahlen 5G-Antennen viel dynamischer. Wenn diese Antennen gebraucht werden, wird die Strahlung dahin dirigiert, wo man sie braucht. Aber wenn die Antenne nicht gebraucht wird, etwa in der Nacht, gibt es viel weniger Strahlung als heute. Rein biologisch ist es kein Problem, wenn an diesem Ort die Strahlenbelastung kurzfristig etwas höher ist.

Das hilft denen nicht, die kein Handy haben, weil sie elektrosensibel sind.
Das stimmt, wenn man nur die Antennenstrahlung anschaut, wird es kompliziert. Tiefere Grenzwerte heisst mehr Antennen, und es wird noch schwieriger sein, Orte ohne nennenswerte Antennenstrahlung zu finden. Aber höhere Grenzwerte heisst für jemanden in der Nähe einer Antenne noch mehr Strahlung als heute. Dafür bleiben grössere Gebiete strahlenarm. Ein Dilemma.

Welchen Grenzwert würden Sie festlegen?
Der jetzt geltende Grenzwert schaut nur die Kurzzeitbelastung an. Das wäre, wie wenn man beim Lärm festschreiben würde, dass nie jemand ein lautes Geräusch hören darf. Viel sinnvoller wäre, einen Tages- oder Jahresmittelwert sicherzustellen. Damit setzt man Anreize, dass die Strahlung langfristig tief bleibt.

Die Strahlenbelastung würde also – wie bei der radioaktiven Strahlung – übers Jahr addiert?
Genau. Da dürfte eine Antenne auch einmal zehn Minuten stärker strahlen. Natürlich braucht es dann Randbedingungen. Es kann nicht sein, dass die ganze Dosis von einem Jahr innerhalb einer Stunde bei jemandem eintrifft. Das wäre definitiv ein Gesundheitsproblem. Das Ziel der Gesetzgebung müsste sein, dass die Strahlenbelastung nicht ansteigt, auch wenn es immer mehr Strahlenquellen gibt.

Einen konkreten Grenzwert wird es trotzdem brauchen.
Ich gebe ungern Empfehlungen ab, sehe meine Rolle mehr im Bereitstellen von Informationen. Sobald man eine Mission hat, wird es schwieriger, gute Forschung zu machen.

Sie sitzen in der ICNIRP, die Grenzwerte vorgibt.
Wir machen nur Richtlinien.

Das ist wie bei der Internationalen Kommission zum Schutz vor ionisierender Strahlung, die angeblich auch nur Empfehlungen abgibt. Die Länder halten sich aber sklavisch daran.
Im Prinzip stellt die ICNIRP einfach fest, wo die Schädlichkeitsschwelle liegt. Danach ist es eine politische Frage. Ich finde es einfach etwas schwierig, damit umzugehen, dass viele wegen der Antennengrenzwerte besorgt sind, sich aber gleichzeitig mit dem eigenen Handy deutlich stärker selber bestrahlen. Nur bei starker Bestrahlung des Kopfs hat man ja auch biologische Effekte nachweisen können.

Der Experte

Martin Röösli (52) ist Professor für Umweltepidemiologie am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut. Er leitet die Berenis, eine ExpertInnengruppe, die das Bundesamt für Umwelt berät, sitzt in der Arbeitsgruppe Mobilfunk und Strahlung, die vom Bundesrat mandatiert wurde, und ist Mitglied der Internationalen Kommission für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP).

Die Masseinheiten

Elektromagnetische Felder werden in Volt pro Meter (V/m) gemessen. Für Mobilfunkanlagen gilt ein Anlagegrenzwert von 4 bis 6 V/m, je nachdem, mit welcher Frequenz gesendet wird. Ein elektromagnetisches Feld wärmt vor allem das Gewebe auf – so wie etwa in einer Mikrowelle die Wassermoleküle zum Schwingen gebracht werden. Diese Wirkung wird in Watt pro Kilogramm (W/kg) gemessen. Es gibt einen Grenzwert für Handys, der bei 2 W/kg liegt.

Unbestritten ist, dass Schäden auftreten, wenn der ganze Körper mit mehr als 4 W/kg bestrahlt wird.