72. Locarno Film Festival: Die Wirklichkeit ist auch nur ein Overall

Nr. 33 –

Das fängt ja gut an: Im ersten Jahr unter Lili Hinstin überzeugt das Filmfestival in Locarno mit Reality-Checks aus Syrien, Island und der Schweiz.

  • Requiem für einen gescheiterten Umsturz: Maya Khourys «During Revolution». Still: The Abounaddara Collective
  • Bilderbogen aus der Wohlstandsgesellschaft: «Bergmal» von Runar Runarsson. Still: Nimbus Iceland
  • Superheldin mit Superknacks: «Love Me Tender» von Klaudia Reynicke. Still: Amka Films Productions

Plötzlich bin ich eine Frau. Wie ich an mir herunterschaue, trage ich keine Shorts mehr, sondern ein weiss gesprenkeltes Sommerkleid. Es ist der Rock meiner Partnerin gegenüber, ich bin quasi in ihren Körper geschlüpft. «Gender Swap» heisst die Virtual-Reality-Installation in Locarno, ihr vordergründiger Effekt ist halbwegs verblüffend. Die Virtual-Reality-Brille vertauscht einfach die Perspektiven, sodass ich wie durch die Augen meiner Partnerin sehe und sie durch meine. Aber das gleich als «Geschlechtertausch» zur Förderung von Respekt und Empathie anzupreisen, ist arg hochgestapelt. Das weichgespülte Klaviergeklimper auf dem Kopfhörer machts auch nicht tiefgründiger.

Vielleicht hätte man sich besser mit Lili Hinstin, der neuen Direktorin des Festivals, zum «Gender Swap» anmelden sollen. Um die Filme hier mal mit ihren Augen zu sehen. Und so vielleicht zu verstehen, was die Französin da geritten hat, so etwas wie «Instinct» mit Carice van Houten auf der Piazza Grande zu zeigen. Die Lust am kalkulierten Skandal womöglich? Selbst dafür bleibt das Regiedebüt der niederländischen Schauspielerin Halina Reijn zu stumpf.

Da verfällt eine Psychiaterin dem brutalen Sexualstraftäter, den sie im Gefängnis betreuen soll. Aber was zu Beginn noch als Studie über Macht und Abhängigkeit durchgeht, erweist sich bald als weibliche Vergewaltigungsfantasie, notdürftig legitimiert mit etwas Küchenpsychologie. Die Frau erliegt dem notorischen Vergewaltiger, weil sie ihn irgendwie scharf findet, aber auch, weil sie als Kind vermutlich von ihrer Mutter missbraucht wurde. Alles sehr basic in diesem «Instinct». Vielleicht ist dieser Film zu retten, wenn man ihn als klinische Umkehrung von Paul Verhoevens «Basic Instinct» liest, mit dem Vergewaltiger in der Rolle der Femme fatale? Bloss, die unverwundbare Autorität der Frau ist ja reine Fassade, ihre Vorgeschichte markiert sie von Anfang an als bedürftiges Opfer.

Jenseits der Revolutionsromantik

Es ist bislang der einzige Fehlgriff in dieser ersten Ausgabe unter Hinstin. Die neue künstlerische Leiterin ist verheissungsvoll gestartet, und auch wenn es noch etwas früh sein mag, um schon eine Signatur herauszulesen: Lili Hinstin programmiert vielfältiger, abwechslungsreicher und weniger monochrom als ihr Vorgänger Carlo Chatrian.

Gerade auch im Wettbewerb, wo immer wieder völlig gegensätzliche Entwürfe von Wirklichkeit aufeinanderprallen. Ja, was meint man eigentlich, wenn von «Realismus» die Rede ist? Zum Beispiel die Unmittelbarkeit einer dokumentarischen Chronik wie «During Revolution» von Maya Khoury aus dem syrischen Abounaddara-Kollektiv. Ohne näheren Kontext wie Jahreszahlen und Ortsangaben durchschreiten wir hier die jüngste Geschichte Syriens. Als einzige Fixpunkte dieser klandestinen Innenschau wirken eine Aktivistin und ihr Mann, die wir durch die Jahre begleiten. Anfangs versuchen sie noch, die Revolution auf den Weg zu bringen, doch bald mühen sie sich immer hilfloser damit ab, die oppositionellen Strömungen gegen alle Spaltbewegungen zu vereinen.

«During Revolution» ist ein Langzeitmosaik, das die Bilder ergänzt, die wir in den Nachrichten nie zu sehen bekommen. Politischer Widerstand wird hier als mühselige Diskussionsarbeit sichtbar, als kleinteiliger Alltag jenseits jeder Revolutionsromantik. Und der Film verdüstert sich halt auch zusehends zum Requiem für einen gescheiterten Umsturz, das folgerichtig im Verlust aller Illusionen mündet. Am Ende: Geisterfahrt durch eine entvölkerte Ruinenstadt. Und Menschen auf der Flucht, zu Fuss im Schneegestöber durch die syrische Nacht.

Ganz Island spielt mit

Schieres Gegenstück dazu dann: «Bergmal» von Runar Runarsson. Halb Island, so kommt es einem vor, hat mitgespielt in diesem Szenenreigen rund um die Weihnachtstage. Ein Film wie ein Adventskalender, ein Bilderbogen aus der Wohlstandsgesellschaft: jede Szene ein unbewegtes Tableau, mit immer neuen Figuren, ohne näheren Zusammenhang. In seiner formalen Anlage erinnert das unweigerlich an das Kino eines Roy Andersson, dabei ist «Bergmal» weit weg von dessen surrealem Sarkasmus. Die Szenen bei Runarsson sind viel prosaischer und kaum je auf irgendwelche Pointen hin gebaut, sie stehen einfach nebeneinander. Manche dieser Vignetten sind grandios, andere etwas flach, und am Ende sehen wir Müllmänner, die den Festtagskehricht wegbringen.

Runarsson entwirft so ein Gesellschaftspanorama aus Einzelszenen, die alle für sich stehen – ein scheinbar beliebiges Mosaik, das wir selber zu einem Gesamtbild zusammensetzen müssen. Das kommt zwar hochgradig artifiziell daher, aber gerade im Verzicht auf jegliche übergeordnete dramaturgische Zurüstung ist dieser Film viel rigoroser der Wirklichkeit verpflichtet als so manches, was mit den einschlägigen Stilmitteln des sozialen Realismus hausiert. Etwa das französische Prekariatsdrama «Douze Mille» über einen charmanten Tagelöhner mit viel Liebe, aber ohne Geld: Die Frage, was ökonomische Not mit dem Begehren macht, bleibt hier bourgeoise Projektion, verkleidet im Übergwändli.

Entdeckung beim Nachwuchs

Den schönsten Overall aber gabs im Film «Love Me Tender» der Tessinerin Klaudia Reynicke zu sehen, in der Sektion «Cinéastes du présent». Das hat ja schon fast Tradition in Locarno, dass man die aufregendsten neuen Schweizer Filme im Nachwuchswettbewerb entdeckt: vor zwei Jahren «Dene wos guet geit», letztes Jahr «Ceux qui travaillent». Und jetzt also dieses ungemein eigenwillige Psychogramm einer jungen Frau (Barbara Giordano), die permanent wie unter Spannung steht, weil sie sich nicht aus dem Elternhaus traut, ein ewiges Kind im Turnkleid. Diagnose: Agoraphobie.

Klingt nach häuslichem Elend, aber der makabre Witz, der in diesem Film lauert, kündet sich schon im Namen der Protagonistin an. Offenbar gabs mal eine ältere Schwester, gestorben vor der Geburt dieser Nachzüglerin, die dann einfach Seconda getauft wurde, die Zweite. Als zuerst die Mutter stirbt und dann der Vater abhaut, gammelt Seconda so lange vor sich hin, bis sie sich gar aus dem Napf der Katze ernährt. Als es gar nicht mehr anders geht, wagt sie sich schliesslich doch nach draussen, gewappnet mit einem blauen Jumpsuit. So stakst sie durch die Gegend wie ein verstörtes Alien – oder eine Superheldin mit Superknacks, auf ihrem Weg zur Selbstermächtigung. Sehr konsequent, wunderbar verschroben, wahnsinnig lustig.

Bundesgelder fürs NZZ-Festival? : Jeder Apéro eine Parabel

Vorne am Rednerpult steht eine Magistratin und spricht unbeirrt gegen das Geplapper ihrer Gäste an. Die wenigen, die ihr angestrengt zuhören, verstehen kein Wort, das Geschwätz in der Menge ist ohrenbetäubend.

Man könnte das als bitterböse Parabel von der schwindenden Autorität der Politik in unserer Zeit lesen, und so betrachtet wäre das wahnsinnig gut inszeniert. Nur leider ist dies kein Film, sondern die soziale Wirklichkeit in Locarno. Wir sind am Empfang der Zürcher Filmstiftung und der Westschweizer Regionalförderung Cinéforom, die Frau am Rednerpult ist die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch, und die plappernde Menge ohne Anstand ist die versammelte einheimische Filmbranche. Kein Wunder, dass der Schweizer Spielfilm ein Dialogproblem hat, wenn diese Leute nicht mal ihrer Gastgeberin kurz zuhören können.

So merken sie auch nicht, dass die Stadtpräsidentin verstimmt ist. Und zwar über den Bund, der ab 2021 nur noch Filmfestivals fördern will, die in keiner Weise gewinnorientiert sind, also auch nicht gewinnorientierten Unternehmen gehören. Das leuchtet kulturpolitisch völlig ein, hiesse aber auch: keine Bundesgelder mehr für das Zurich Film Festival (ZFF), das seit 2016 im Besitz der NZZ-Mediengruppe ist. Vom Bund erhält das ZFF derzeit 250 000 Franken pro Jahr, wobei die Förderung aufgrund der neuen Besitzverhältnisse schon einmal für ein Jahr gestrichen worden war.

Bei der Stadt Zürich, die das ZFF mit jährlich 350 000 Franken unterstützt, ist man offenbar gar nicht glücklich über die Absichten des Bundes. Mauchs Ansage in Locarno war klar, auch wenn das im Geschwätz fast niemand gehört hat: Sie zählt darauf, dass die neue Einschränkung bei der Festivalförderung in der Vernehmlassung noch gekippt wird.