Sozialhilfe: Wieder versorgt?

Nr. 36 –

Im Aargau können Gemeinden seit März Menschen, die Sozialhilfe beziehen, in Heime einweisen. Die Regierung hat einen entsprechenden Passus in eine Verordnung aufgenommen. Das weckt Erinnerungen an düstere Zeiten.

Im Kanton Aargau stehen Sozialhilfe­bezügerInnen pauschal unter Druck. Gabriela Merlini-Pereira verliest vor dem Regierungsgebäude in Aarau ihren offenen Brief.

Vor den abweisenden Mauern des Regierungsgebäudes versammeln sich am Dienstagmorgen in Aarau ein halbes Dutzend Menschen. Sie halten Plakate hoch: «Wegen Armut ins Heim gesteckt», «Aargauerinnen aus ihren Wohnungen vertrieben» oder «Familie ins Heim gesteckt». Anlass für diese Aktion ist eine Ergänzung der Aargauer Sozial- und Präventionsverordnung vom 1. März. Darin heisst es: «Personen, die in verschiedenen Lebensbereichen Unterstützung bedürfen, können zur Umsetzung entsprechender Betreuungs- oder Integrationsmassnahmen einer Unterkunft zugewiesen werden.»

Was nach Hilfe klingt, öffnet in den Sozialämtern der Gemeinden die Tür für eine Willkür, die man überwunden geglaubt hatte.

Zufällig am selbem Tag, an dem die kleine Aktion in Aarau stattfindet, berichten viele Schweizer Medien über einen neuen Expertenbericht, der sich mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen der Vergangenheit befasst. Bis 1981 internierten Behörden «Unangepasste» wie Kriminelle, sie rissen Familien auseinander, manche Menschen liessen sie sterilisieren. Diese Willkür, so der Tenor des Berichts, soll sich nie mehr wiederholen.

Passus soll ganz gestrichen werden

Doch nun öffnet der Kanton Aargau diese Tür zur Willkür wieder einen Spalt weit. Tatsächlich gibt es Menschen, die sich selber nicht mehr helfen können. Wie in solchen Fällen zu verfahren ist, regelt das Bundesgesetz über den Erwachsenen- und Kinderschutz. Klar geregelt ist in diesem Gesetz ebenfalls, wie sich Betroffene juristisch wehren können. Die Sozialämter der Gemeinden sind nicht zuständig.

Daher wehrt sich die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) gegen die Verordnungsänderung im Aargau. Sie verlangt die Streichung des Passus und hat eine Petition lanciert. Beim Kampagnenstart vor dem Regierungsgebäude verliest Gabriela Merlini-Pereira einen offenen Brief. 1965 wurde ihre Familie auf der Grundlage der damaligen Willkürgesetze auseinandergerissen. Für sie begann eine jahrelange Odyssee durch Heime (siehe WOZ Nr. 26/2017 ). Als sie auf den Passus in der Verordnung aufmerksam geworden sei, sei für sie klar gewesen, so heisst es in ihrem Brief, «dass ich alles mir Mögliche unternehmen muss, damit wenigstens der genannte Artikel von Ihnen (der Regierung) nochmals überdacht und in den Kontext rechtsstaatlicher Prinzipien gestellt wird». Nach der Verlesung ihres Schreibens begibt sich Merlini-Pereira ins Regierungsgebäude und übergibt den Brief den Behörden.

UFS-Geschäftsleiter Andreas Hediger sagt: «Dieser Passus ist überflüssig und skandalös. Ausserdem fehlt dafür die gesetzliche Grundlage. In diesem Bereich gilt Bundes-, nicht kantonales Recht. Eine allfällige Unterbringung eines Klienten ist Sache der Erwachsenen- und Kinderschutzbehörde, nicht der Gemeinden.» Diese Regelung sei ein Rückfall in vergangene Zeiten. Was die Regierung verabschiedet habe, sei juristisch unhaltbar. «Mag sein, dass die Aargauer Regierung das nicht beabsichtigt, aber hier hat auf jeden Fall das juristische Controlling komplett versagt.»

Die Neuerung hat die Aargauer Politik aufgeschreckt. Die Grossratsfraktionen von SP und Grünen haben eine Erklärung aufgesetzt. Der Erwachsenenschutz sei im Zivilgesetzbuch geregelt, halten auch sie fest. Dies gelte insbesondere auch für hilfsbedürftige Personen, die nicht urteilsfähig seien. «Dabei werden auch die Zuständigkeiten, die Organisation der Behörden, das Verfahren und der Rechtsschutz abschliessend geregelt», heisst es dort. Es fehle dem Regierungsrat jegliche Kompetenz, über die Zuweisung von SozialhilfebezügerInnen in eine Unterkunft Gesetzes- oder Verordnungsbestimmungen zu erlassen. Das Vorgehen des Regierungsrats sei «in hohem Masse» stossend. «Wir fordern den Regierungsrat auf, die Verordnungsanpassung sofort ersatzlos aufzuheben.»

Der Anlass für die Anpassung

Wie konnte es zu diesem Totalversagen kommen? Anlass für die Verordnungsanpassung waren eine Interpellation der SVP-Grossrätin und Aarburger Gemeinderätin Martina Bircher aus dem Jahr 2018 und die neu geltenden beschleunigten Asylverfahren. Bircher regte sich über das «Geschäftsmodell mit der freien Wohnungswahl für anerkannte oder vorläufig aufgenommene Flüchtlinge» auf und forderte eine Einschränkung ihrer Niederlassungsfreiheit. In der Interpellationsantwort verwies der Regierungsrat auf eine Möglichkeit, wie sie die Sozialhilfegesetzgebung des Kantons Bern vorsehe. Dort gebe es eine mittelbare, also befristete Einschränkung der Niederlassungsfreiheit, indem den Flüchtlingen Wohnraum als Sachleistung zur Verfügung gestellt werde. Das diene der besseren Integration.

Bloss: Im Kanton Bern, zumindest bei der kantonalen Sozialhilfekonferenz, weiss man von einer solchen Bestimmung nichts. Ausserdem dürfen Flüchtlinge laut der Genfer Flüchtlingskonvention nicht anders behandelt werden als SchweizerInnen. Also weitete der Aargauer Regierungsrat unter der Federführung der inzwischen zurückgetretenen SVP-Regierungsrätin Franziska Roth den Passus kurzerhand auf alle SozialhilfebezügerInnen aus.

Loranne Mérillat, Leiterin der kantonalen Sektion Öffentliche Sozialhilfe, sagt gegenüber der WOZ, es gehe auf keinen Fall um Zwangszuweisungen: «Die Anpassung der Verordnung bezieht sich auf Personen, die in verschiedenen Lebensbereichen Unterstützung benötigen.» Zu denken sei dabei beispielsweise an eine auf die Integration ausgerichtete betreute Wohnform. Wenn sich eine Person weigere, habe sie dennoch Anspruch auf Sozialhilfe. Die Weigerung habe auch keine «direkte Kürzung oder Einstellung der Sozialhilfe zur Folge». Aber: «Vorbehalten bleiben wie bisher mögliche Kürzungen im Rahmen eines ordentlichen Auflagen- und Weisungsverfahrens.» Noch ist dem Kanton kein Fall bekannt, auf den der neue Passus angewendet wurde.

Der Regierungsrat hat noch am Tag der Protestaktion mit einer Medienmitteilung auf die Kritik reagiert. Darin heisst es, die Regierung habe zu keinem Zeitpunkt die Absicht gehabt, zwangsweise Zuführungen in Institutionen und Einrichtungen vorzunehmen. Die Anpassung beziehe sich beispielsweise auf Flüchtlinge aus dem beschleunigten Verfahren, aber sie könne auch auf andere SozialhilfebezügerInnen angewendet werden. Die Niederlassungsfreiheit werde dabei von den Behörden respektiert.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Solange dieser neue Passus gilt, stehen alle SozialhilfebezügerInnen im Kanton Aargau pauschal unter Druck.

Mehr Infos: www.armenhaeuser-nein.ch