Tramblockade: Kein Tram für alle

Nr. 38 –

In der Stadt Zürich entwickelt sich der barrierefreie Zugang zum öffentlichen Verkehr im Schneckentempo – anders als etwa in Bern. Betroffene wollen das nicht länger hinnehmen. Sie blockierten am Freitag die Tramlinie 8.

Dass viele Trams nur schwer zu erklimmen sind, betrifft nicht nur Menschen im Rollstuhl: Teilnehmerin der Protestblockade an der Haltestelle Bäckeranlage am Freitag letzter Woche.

Sonst eine eher gelassene Person, hatte Dorothee Wilhelm vor ein paar Wochen einen veritablen Wutanfall. Als sie nach getaner Arbeit von Winterthur nach Zürich zurückkam und sich auf den Feierabend freute, wartete sie exakt 67 Minuten an der Tramhaltestelle Bahnhof Hardbrücke auf eine Möglichkeit, nach Hause zu kommen. Dorothee Wilhelm ist auf den Rollstuhl angewiesen, aber kein Tram mit Niederflureinstieg kam vorbei. Sie machte sich im Rollstuhl auf den Heimweg.

Ihren Arbeitsweg hatte sie natürlich ausprobiert, bevor sie im letzten Jahr eine neue Stelle in Winterthur antrat – wenn der nicht funktioniert, muss sich ein Mensch im Rollstuhl gar nicht erst bewerben. Es sah gut aus. «Ein kleiner Abschnitt mit grossem Nutzen», hatten die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) Ende 2017 gejubelt, nachdem die Tramlinie 8 verlängert worden war. Jetzt sei «der wichtige S-Bahnhof Hardbrücke optimal ans städtische Tramnetz angeschlossen». Mit einem Festakt und grossen, grünen, nachts leuchtenden Achten hatte man die neue Streckenführung gefeiert, auf der zunächst auch barrierefreie Niederflurtrams verkehrten.

Hohe Schwelle seit diesem Sommer

Doch seit den Sommerferien ist alles anders: Plötzlich rollen auf der Linie 8 nur noch alte Wagen mit hohen Eingangsstufen. Personen mit eingeschränkter Mobilität müssen schon zur Bewältigung ihres Alltags mehr Energie einsetzen als nicht beeinträchtigte Menschen, dazu kommt das zeitfressende Aufspüren schwellenloser Wege und funktionierender Lifte. Mit dem Druck, auch noch auf Busse umzusteigen, fällt der «wichtige S-Bahnhof Hardbrücke» für sie weg.

Doch die Tatsache, dass viele Zürcher Trams nur mit Anstrengung oder gar nicht zu erklimmen sind, betrifft nicht nur Menschen im Rollstuhl. Alle, die mit Kinder- und Einkaufswagen oder Rollator regelmässig den öffentlichen Verkehr benutzen, wissen, wie lange man in Zürich oft aufs nächste Niederflurtram warten muss. Einem Kollegen, der – kürzlich Vater geworden – ganz neu mit dem Problem konfrontiert ist, versicherte der VBZ-Kundendienst, bis auf seltene Ausnahmen sei doch in Zürich jedes zweite Tram barrierefrei! Offenbar findet man, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

Dorothee Wilhelm beschloss, sich zu wehren, und schrieb den zuständigen Zürcher StadträtInnen, sie wolle nicht länger hinnehmen, schon «entnervt und erschöpft» an ihrem Arbeitsplatz anzukommen: Für Freitag, den 13. September, plane die Aktion «Tram für alle» eine Blockade von jedem nicht barrierefreien Tram der Linie 8.

Die Behörden reagierten blitzschnell. Am 12. September schrieben die VBZ in einer Medienmitteilung zur Linie 8: «Es müssen weitgehend sogenannte Tram-2000-Solo-Wagen eingesetzt werden, die hochflurig sind», als ob sich dieser Umstand gerade erst ergeben hätte; doch man biete den Fahrdienst der Stiftung Behinderten-Transporte Zürich an. Der muss 24 Stunden vor Abfahrt bestellt werden. Wilhelm lud man zu deeskalierenden Gesprächen.

Da die VBZ die Linie 8 nach dem ersten blockierten Tram umzuleiten gedachten, erklärte Wilhelm sich einverstanden, es bei der zehnminütigen Blockade eines einzigen Tramzugs zu belassen. Das mache zwar aus einem Akt des zivilen Ungehorsams bloss einen symbolischen, sei aber besser als nichts.

Also fanden sich am Freitagmorgen bei einer Tramhaltestelle rund dreissig Menschen mit und ohne Rollstuhl ein, darunter zwei Väter mit Kind im Wagen, ein Stadtrat, mehrere VBZ-Abgesandte, diverse Polizisten und einige MedienvertreterInnen. UnterstützerInnen entfalteten ein Transparent: «Die VBZ blockiert uns. Wir blockieren die VBZ». Das Tram hielt, die meisten Fahrgäste stiegen sofort aus und liefen eilig davon. Wer im Tram blieb, guckte weiter auf sein Handy. Der Tramchauffeur meinte, auch wenn er von der Aktion vorher nichts gewusst habe, ärgere er sich nicht – er sei ja schon am Arbeiten. Für das Anliegen habe er Verständnis.

Nach zehn Minuten fuhr das Tram wieder, die Gespräche gingen weiter. Um «auf Augenhöhe» mit den BürgerInnen im Rollstuhl reden zu können, hatte der zuständige Stadtrat Michael Baumer (FDP) einen Stuhl mitgebracht. Er beteuerte, wie sehr der Stadt eine Änderung der bedauerlichen Situation am Herzen liege und wie viel man schon unternommen habe, aber – es folgten die vielen Gründe für Verzögerungen, allen voran der verschleppte Beschaffungsprozess für neue Trams, die ab 2020 nach und nach eintreffen sollen. Fast spürte man ein leises Bedauern für den Mann.

Bern kann es schon lange

Um die misslichen Zustände wieder in angemessenen Proportionen zu betrachten, genügt ein Blick nach Bern: Seit Jahren verkehren in der Bundesstadt sämtliche Tram- und Buslinien mit barrierefreiem Zugang, mit der Beschaffung der Fahrzeuge begann man in den neunziger Jahren. Darauf angesprochen, meinte Stadtrat Michael Baumer: «Bern hat dafür andere Probleme.» Bloss interessieren die hier gerade nicht.

Seit 2004 gilt in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz, das jedem Menschen den Zugang zu Gebäuden und öffentlichem Verkehr garantiert. Bis 2024 sollen alle notwendigen Massnahmen umgesetzt sein. Bis dann will die Aktion «Tram für alle» nicht warten. Über weitere Schritte wird sie informieren.

Nachtrag vom 31. Oktober 2019 : Erfreuliche Logistik

Gut geplant, wenn auch bloss symbolisch war der Akt des zivilen Ungehorsams, über den die WOZ vor sechs Wochen berichtete. Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen oder regelmässig mit Rollator, Kinder- oder Einkaufswagen unterwegs sind, blockierten an einer Stadtzürcher Haltestelle für zehn Minuten ein Tram der Linie 8. Die Aktion «Tram für alle» protestierte dagegen, dass auf sämtlichen Linien der Zürcher Verkehrsbetriebe (VBZ) Niederflurwagen nur unregelmässig verkehren und bei der Linie 8 seit dem Sommer sogar ganz fehlten.

Bei der Aktion anwesend waren auch FDP-Stadtrat Michael Baumer und einige VBZ-Verantwortliche, die den Betroffenen wortreich zu erklären versuchten, welch missliche Umstände zu so gravierenden Engpässen bei der Trambeschaffung geführt hätten. Den Teilnehmenden der Aktion leuchteten die Argumente zwar nicht wirklich ein, doch sie mussten sich vorerst damit zufriedengeben. Dorothee Wilhelm, Initiantin der Aktion und WOZ-Autorin, schickte dem Stadtrat anschliessend ein persönliches Mail mit der Bitte, die verbliebenen Niederflurfahrzeuge wenigstens gerechter auf alle Linien zu verteilen, was logistisch doch möglich sein sollte. Eine persönliche Antwort erhielt sie nicht.

Doch am 22. Oktober luden VBZ und Stadtverwaltung zur Pressekonferenz: Ab 25. November wird es einige Änderungen in der Linienführung geben, die es ermöglichen, sogar auf der Linie 8 wieder jedes zweite Tram mit Niederflureinstieg zu führen.

Selbstverständlich verneinte Stadtrat Baumer im «Tages-Anzeiger» die Frage, ob man damit «dem Druck aus der Bevölkerung nachgegeben» habe. Schliesslich will er keine Steilvorlage für ähnliche Aktionen bieten. Aber dass man sich jetzt doch ernsthaft um einen Ausweg aus der verfahrenen Situation bemüht hat, freut nicht nur die TeilnehmerInnen der Aktion «Tram für alle», sondern alle EinwohnerInnen der Stadt Zürich.

Karin Hoffsten