Rojava: Einmal mehr verraten

Nr. 41 –

Die US-Armee räumt in Nordsyrien das Feld – und macht damit den Weg für eine türkische Invasion frei. Es droht eine weitere Eskalation mit fatalen humanitären und sicherheitspolitischen Folgen.

«Wir haben keine Freunde ausser den Bergen» heisst ein altes kurdisches Sprichwort, das sich derzeit wieder einmal zu bewahrheiten droht. Mit dem Rückzug ihrer Streitkräfte aus Nordsyrien kehren die USA den KurdInnen den Rücken. Bislang war die kurdische YPG-Miliz eine der wichtigsten US-amerikanischen Verbündeten im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz «Islamischer Staat» (IS) in Syrien. Doch nun verliessen nur Stunden nach der Ankündigung aus Washington die US-Truppen ihre Schlüsselstellungen in Ras al-Ain und Tal Abjad – und ebneten damit den Weg für die dritte und wohl grösste türkische Militärintervention in Syrien.

Wohin mit den IS-Kämpfern?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte jedenfalls, die Operation zur Schaffung einer «Sicherheitszone» im Nachbarland könne jederzeit beginnen; laut türkischen Medienberichten begann der Einmarsch am Mittwoch. Mit den ersten beiden Offensiven 2016 und 2018 hatte Ankara westlich des Euphrats die KurdInnen vertrieben. Nun sollen die Kurdenmilizen östlich des Flusses beseitigt werden, um dort rund zwei Millionen syrische Flüchtlinge anzusiedeln. «Geh und sag dem Ungläubigen, Mohammeds Armee ist zurückgekehrt», jubelte die regierungsnahe türkische Tageszeitung «Yeni Akit» über den bevorstehenden Krieg gegen Rojava, wie das von den KurdInnen bewohnte Gebiet direkt hinter der türkischen Grenze genannt wird.

Jahrelang unterstützte Washington die YPG-Miliz mit Waffen und Spezialkräften. Auch noch nachdem sich Washington und Ankara Anfang August auf die Schaffung einer Sicherheitszone geeinigt hatten, sicherte das Pentagon den KurdInnen weitere Unterstützung zu. Amerikas bekanntester Twitter-Nutzer – Präsident Donald Trump – verteidigte sich wie gewohnt per Kurznachrichtendienst auch damit, dass es jetzt an der Zeit sei, die US-SoldatInnen nach Hause zu bringen.

Der US-amerikanische Rückzug und der Vorstoss der Türkei könnten katastrophale Folgen haben, weit über die Region hinaus. In den kurdischen Gefängnissen sollen sich Zehntausende IS-Kämpfer und IS-AnhängerInnen befinden, auch aus europäischen Ländern wie der Schweiz. Trump schrieb, dass das Bündnis der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) selbst darüber entscheiden solle, was mit den Gefangenen geschehe. SDF-Sprecher Mustafa Bali erklärte, mit dem Truppenabzug zerstöre Washington «das Vertrauen und die Zusammenarbeit zwischen den SDF und den USA». Sein Bündnis sei «entschlossen, unser Land um jeden Preis zu verteidigen». Bali warnte vor einem Wiedererstarken des IS als Folge der türkischen Militäroffensive. Eine berechtigte Befürchtung, die Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin aber zurückwies: Die Türkei werde nicht zulassen, dass der IS «in irgendeiner Art und Weise» zurückkehre, schrieb Kalin auf Twitter.

Das Pufferzonenrätsel

Erdogan will die kurdisch geführte demokratische Selbstverwaltung zerstören und mit der Ansiedlung syrischer Geflüchteter grösstmöglichen Einfluss auf die Neugestaltung Syriens gewinnen. Neben Teheran und Moskau wird Ankara ein nicht zu ignorierender Player in der Region sein. Doch durch die Vertreibung der KurdInnen und neue Kämpfe könnte es zu Tausenden Toten kommen. Zudem ist es wahrscheinlich, dass noch mehr Menschen versuchen werden, das Land zu verlassen. Zwar hat Ankara seit dem EU-Türkei-Deal 2016 zugesichert, Flüchtlinge an der Weiterreise in die Europäische Union zu hindern. Allerdings leben in der Türkei selbst rund 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge, die nun mehrheitlich in die Pufferzone ohne intakte Infrastruktur abgeschoben werden sollen. Wie das genau vonstattengehen soll – ob friedlich oder mit Gewalt –, ist unklar. Da ist es nur logisch, dass viele den Weg nach Europa suchen werden.

Nutzniesser dieser Entwicklung sind ausgerechnet Trumps erklärte Feinde: der Iran, Russland und das Regime des syrischen Diktators Baschar al-Assad – denn die KurdInnen brauchen Verbündete, nachdem die USA sie im Stich gelassen haben. Auch deswegen wurde Trump von seinen ParteifreundInnen kritisiert. «Diese impulsive Entscheidung des Präsidenten hat alle Erfolge, die wir verbucht haben, zunichtegemacht und die Region in weiteres Chaos gestürzt», sagte der einflussreiche US-Republikaner Lindsey Graham, eigentlich ein enger Vertrauter Trumps, gegenüber dem TV-Sender Fox News. Zudem drohte Graham der Türkei mit Sanktionen, sollte sie «einen Fuss nach Syrien setzen».