Théâtre Vidy-Lausanne in Basel: Der Scheintoten Tanz

Nr. 4 –

«Guerre» feiert grosse Erfolge auf internationalen Festivals und gastiert nun in der Kaserne.

Auf die Frage, woher er denn komme, antwortet der kleine, zerlumpte Junge mit einem Luftsprung, dann wirft er sich auf den Boden und schiesst mit einem imaginären Gewehr in die Luft. Er bedeckt den Kopf mit beiden Händen und imitiert mit lauten Geräuschen und Pfiffen einschlagende Bomben. Plötzlich springt er wieder auf, ballert wild herum und schneidet sich mit dem Zeigefinger mehrmals die Kehle durch, lacht laut und strahlt. Er teilt uns mit, er stamme aus Kabul.

Am 21. Oktober wurde am Théâtre Vidy-Lausanne das Stück «Guerre» von Lars Norén uraufgeführt. Der schwedische Autor hat selbst Regie geführt, die SchauspielerInnen stammen aus Frankreich und Rumänien. «Guerre» ist eine Tragödie, eine Reihe kurzer Szenen, die vom Ende eines Krieges erzählen, von der Rückkehr eines erblindeten Soldaten in seine Familie. Doch da will ihn niemand mehr haben. Weder die Mutter noch die zwei Töchter warteten auf ihn, sie hielten ihn für tot. Für sie ist er lediglich einer der Soldaten, von denen sie während des Krieges mehrmals vergewaltigt wurden. Dieser Krieg wird nicht benannt, er könnte überall stattgefunden haben, in Algerien, auf dem Balkan, in Ruanda oder in Afghanistan. So will es jedenfalls der Autor. Seine Figuren wirken entwurzelt und völlig desorientiert, wie wenn der Krieg ihnen das Wissen, wer sie sind und woher sie kommen, zerstört hätte. So greift der Mann verzweifelt gefangen im schwarzen Raum seiner Blindheit nach den Körpern der drei Frauen, und auf seinen Ausruf «Ich bin es!» erhält er lediglich ein kategorisches «Nein!» der Mutter.

Lars Norén wurde 1944 in Stockholm geboren, schrieb als junger Mann Gedichte und erlebte schliesslich 1983 mit dem Stück «Dämonen» seinen grossen Durchbruch als Dramatiker. Über fünfzig Stücke hat er bisher geschrieben, und der Bogen seiner Themen spannt sich von Familien- und Ehedramen bis zu den politischen Stücken der letzten Zeit. Während seine früheren Ehekriegsstücke noch an seinen berühmten Vorgänger August Strindberg erinnern, sind seine späteren Werke - bar jeder Psychologie - abstrakte, durchkomponierte Oratorien über die Gewalt, deren Teile aber - das ist irritierend und interessant - von den SchauspielerInnen hyperrealistisch gespielt werden. So kriegt man Fragmente dokumentarisch festgehaltener Intimität zu sehen, Gefühl pur, hart an der Schamgrenze, aber oft tief berührend.

Wenn laut Carl von Clausewitz der Krieg die Fortsetzung der politischen Normalität mit anderen Mitteln ist, so ist er für Lars Norén erst deren tiefere Wahrheit. Und wenn laut marxistischen Maximen ein gerechter von einem ungerechten oder nach heutigen ökonomischen Kriterien ein nutzloser von einem notwendigen Krieg unterschieden werden muss - oder wenn es Kriege geben soll, um eine bessere Zukunft zur Wirklichkeit zu machen -, dann hält Lars Norén dagegen, dass die Nachkriegszeit die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sei. Es gibt keinen Frieden danach, nichts ist besser, und Freiheit herrscht schon gar nicht. Das zeigen uns die aggressiven Scheintoten in seinem Stück: Sie haben den Krieg überlebt und doch alle ihr Leben verloren.

So wie der kleine Junge aus Kabul, den es tatsächlich gibt. Der die Auskunft über seine Herkunft nur noch wortlos in gewalttätige Spiele übersetzen kann. Auch die jüngere Tochter im Theaterstück «Guerre» äussert ihre Traumen in Gesten, Ticks, merkwürdigen Tänzen, Gekicher und Gelalle. Und als sie ihrem blinden Vater mit einer staksigen Pantomime ihre Vergewaltigungen vorspielt, zeigt sich die Unmöglichkeit, das zu kommunizieren, was eigentlich kein Mensch erträgt. So sieht jeder immerzu das eigene Elend und hat nicht die Kraft für die Not des anderen. Die ältere Tochter reagiert pragmatischer und macht nun das, was ihr früher angetan wurde, zu Geld, sie bemalt sich die Lippen und geht auf den Strich. Und die Mutter hat sich mit dem Bruder ihres Mannes zusammengetan, der - für den Heimkehrer nicht sichtbar - immerfort mit am Familientisch sitzt. «Entschuldigt, es ist nicht meine Schuld», schreit der Mann, aber da ist die Bühne bereits wieder leer.

Radikale politische Arbeiten sind Lars Norén auch schon zum Verhängnis geworden. 1999 entwickelte der Autor zusammen mit Häftlingen der Haftanstalt Tidaholm das Stück «Sieben drei». Bei den Gefangenen handelte es sich um Neonazis, die wegen Waffendiebstahls, Vorbereitung zum Mord und Raubüberfällen verurteilt waren. Lars Norén warf man vor, er gäbe den Schauspielern die Möglichkeit, ihre kriminellen und rassistischen Ansichten vor öffentlichem Publikum frei zu entfalten. Der Autor widersprach und hielt daran fest, er wolle nur von verborgenen Orten erzählen und Gesellschaftsforschung treiben, um die Einfühlungskraft der Menschen zu entwickeln. Am Tag nach der letzten Aufführung nutzten zwei der drei Darsteller den Hafturlaub, um eine Bank zu überfallen, und auf der Flucht erschossen sie zwei verletzte Polizisten durch gezielte Nackenschüsse. Dies geschah, nachdem sie wochenlang die Möglichkeit hatten, «Ihr dort unten, haltet die Schnauze!» von der Bühne zu grölen.

Nicht um die Täter, sondern um die Opfer geht es im aktuellen Stück. Um das Ausgeliefertsein. Da sitzt die Frau auf dem Stuhl und näht, während der Mann sich auszieht und sie auffordert: «Erzähle mir was», und sie nur antworten kann: «Was?» Dann legt er sich hin und wartet, halbnackt, seine weissen, dünnen Beine schreien nach Zärtlichkeit und Wärme. Doch die Frau steht auf und legt sich zu ihren Töchtern und umarmt sie heftig, die Kinder, die sich kurz zuvor mit Drogen, die sie aus Plastiksäcken sniffen, vollgepumpt haben. Der Mann liegt still - ein Sinnbild der Einsamkeit und der enttäuschten Hoffnung. Die kurz darauf versuchte eheliche Vergewaltigung kann die Frau nur abwenden, indem sie ihrem Mann erzählt, dass das, was er soeben zu tun bereit ist, vor ihm schon viele andere getan haben.

Und wenn für Heraklit der Krieg der Vater aller Dinge gewesen ist, so sagt uns Lars Norén mit «Guerre» ganz deutlich, es gelte nicht den Familienvater - den Kriegsheimkehrer - aus dem Haus zu jagen, sondern das Übel, den Übervater, an der Wurzel auszureissen. Die - übrigens hervorragend gespielten - Personen im Stück würden dem kaum widersprechen.

«Guerre» von Lars Norén in: Basel Kaserne, Do/Fr/Sa, 27./28./29. Jan, jeweils 20 h. In französischer Sprache mit deutschen Untertiteln. www.kaserne-basel.ch