Antiklassischer Klassiker: Endspiel im Lunar Park

Nr. 15 –

War Samuel Beckett, der vor hundert Jahren auf die Welt kam, ein Chronist der «condition humaine», Dichter nach Auschwitz oder einfach der letzte Klassiker?

In seinem neuen Roman «Lunar Park» platziert der US-amerikanische Schriftsteller Bret Easton Ellis einen kleinen Seitenhieb gegen Samuel Beckett. Zwischen Smalltalk mit den Nachbarn, heimlichem Kokainkonsum in der Garage und Flirt mit einer Studentin muss sich der frisch verheiratete Romanheld, der ebenfalls Ellis heisst, auch mit der sechsjährigen Tochter seiner Ehefrau herumschlagen, die wegen des Lärms nicht schlafen kann.

Als er sie wieder der privaten Kinderbetreuerin übergeben hat, schildert er einem Freund sein neues Leben: «‹Na ja‚ verheiratet sein ist okay - bloss das Dadsein ist etwas heikler›, sagte ich. ‹Kann ich noch Saft haben, Daddy?› ‹Nimm doch lieber Wasser, Schätzchen.› ‹Daddy?› ‹Ja?› ‹Kann ich Saft haben?› ‹Trink doch lieber Wasser, Schätzchen.› ‹Kann ich Saft haben, Daddy?› ‹Na meinetwegen, Herzchen, du möchtest also Saft.› ‹Ach, schon gut, ich trink einfach Wasser.› Es ist wie ein beschissenes Beckett-Stück, und wir proben es von morgens bis abends.»

So salopp und arrogant das klingen mag, der Kommentar, den Ellis seinem Alter Ego in den Mund legt, trifft ziemlich genau das Renommee, das der 1989 verstorbene irische Autor Samuel Beckett im Jahr seines 100. Geburtstags geniesst (er kam am 13. April 1906 zur Welt). Dem Mann, der mit «Warten auf Godot» (1952) und «Endspiel» (1957) die wohl berühmtesten Theaterstücke seit dem Zweiten Weltkrieg geschrieben hat, haftet siebzehn Jahre nach seinem Tod etwas Antiquiertes an. Das modernistische Spiel mit wenigen Charakteren, noch weniger Handlung und endlosen Wiederholungen scheint veraltet. Wie nicht zuletzt Ellis selbst beweist, sind heute wieder spannende, vertrackte Plots gefragt, und die tragisch-komische Weltsicht von Beckett ist einem neuen Witz gewichen.

Dennoch ist Ellis’ Gestus keine simple Denunziation. Die Parodie macht auch deutlich, dass Beckett ein Klassiker ist, an dem man sich messen muss. Anders gesagt: Beckett mag nicht mehr aktuell sein, aber sein Platz in der Literaturgeschichte ist unangefochten. Dass das nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Vergleich mit anderen einst hoch gehandelten Autoren aus den fünfziger und sechziger Jahren. Camus? Frisch? Pasolini? Grass? Sie alle reizen heute kaum mehr zur Persiflage und dürften ihren einst sicher geglaubten vorrangigen Platz in der Literaturgeschichte bald verlieren. Nur Beckett, so scheint es, ist es gelungen, die europäische Nachkriegszeit in bleibenden Texten zu gestalten.

Worin liegt Becketts Erfolgsgeheimnis? Auch das zeigt sich im Vergleich mit den erwähnten Autoren, die allesamt mehr oder weniger dem Existenzialismus zugerechnet werden können. Wie Martin Heidegger bewerten sie das Allgemeinmenschliche höher als die Geschichte und nehmen an, dass die so genannte «condition humaine» am besten in einer tragik-komischen Form zur Darstellung kommt. Diese Deutung ist zwar auch bei Beckett populär. Sie dürfte zu seinem Erfolg in den fünfziger und sechziger Jahren nicht unwesentlich beigetragen haben. Noch heute behauptet das von den NutzerInnen geschriebene Internetlexikon Wikipedia, Becketts Thema sei «die Erkenntnis der Sinnlosigkeit menschlicher Existenz» gewesen.

In der Forschung allerdings ist diese Lesart überholt. Das ist in erster Linie das Verdienst von Theodor W. Adorno. Er hat in seiner 1970 postum veröffentlichten Schrift «Ästhetische Theorie» Beckett als einen radikal zeitgebundenen Dichter besprochen, der mitnichten das Wesen des Menschen behandelt. Im Gegenteil: Nach Adorno ist Becketts Thema das «falsche» Leben. Er zeigt die entfremdete Existenz, die der Mensch im Zeitalter des Hochkapitalismus führt. Als dessen Kennzeichen hat Adorno die Tendenz zur «Abstraktion» - zur Tilgung jeglicher Besonderheit - ausgemacht. Und weil diese Tendenz nach seiner Diagnose in reinster Form im Holocaust hervortritt, ist Beckett, der Nachkriegsschriftsteller, der Erste, dem es gelingt, sie in ihrem ganzen Ausmass zu erkennen.

Damit schafft er gemäss Adorno eine völlig neue Kunstform. Beruht die traditionelle Kunst auf dem Prinzip der Innovation, das immer neue Besonderheiten behandelt, führt die «Abstraktion» zur Kunstform der Wiederholung. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von einer «Antikunst», welche die bisher bekannten Kunstwerke angesichts der neuen historischen Realität als illusionär entlarvt.

Ganz anders als Adorno hat Anfang der neunziger Jahre der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom Beckett beurteilt. Wie er in seinem berühmt-berüchtigten Buch «The Western Canon» ausführt, sieht er in Becketts Werk nicht eine radikal neue Dichtung, sondern gerade eine Weiterführung der literarischen Tradition. Um das zu beweisen, hebt Bloom Becketts Technik der Zitate und Anspielungen hervor. «Warten auf Godot» zum Beispiel liegt Augustinus’ Fazit über die beiden mit Christus gekreuzigten Verbrecher zugrunde: «Verzweifle nicht. Einer der Diebe wurde gerettet. Sei nicht anmassend. Einer der Diebe wurde verdammt.» Weiter entdeckt Bloom auf Anhieb ganze Zitatpassagen aus Gedichten von Percy Shelley. Dasselbe Verfahren lässt sich in anderen Texten Becketts verfolgen. Immer wieder stehen dabei Shakespeare und Dante im Zentrum. «Endspiel» etwa geht von «Hamlet» aus (der Vater aus der Mülltonne!), um später Elemente aus «Lear», «Der Sturm» oder «Richard III.» zu collagieren, und das Purgatorium oder den Limbo aus der «Divina Commedia» hat Beckett unzählige Male gestaltet.

Damit passt Beckett perfekt in Blooms Theorie der Literaturgeschichte. Bloom nimmt nämlich an, dass alle neuzeitlichen, westlichen Dichter letztlich dieselben Themen behandeln. Deshalb stehen sie permanent unter «Einflussangst». Sie müssen mit ihren Vorgängern kämpfen, die sie zu übertrumpfen versuchen. Als die einflussreichsten dieser toten Dichter erachtet Bloom Dante und Shakespeare. Denn diese beiden haben nicht nur grossartige Werke verfasst, sondern das Paradigma der literarischen Tradition überhaupt erst erfunden. Die «Divina Commedia» und nachher «Hamlet» machen die Heimsuchung durch die Toten, die ihre Geschichten erzählen, zum Grundprinzip literarischer Autorenschaft. Und in diese Tradition gehört gemäss Bloom auch Beckett. Indem er in seine Texte unzählige Zitate der toten Vorgänger einwebt, markiert er selbst den (vorläufig) letzten Höhepunkt der westlichen Literaturgeschichte.

Blooms Hinweis, dass das «Endspiel» der «Hamlet» von Beckett werden sollte, legt nahe, noch mal zu Bret Easton Ellis zurückzukehren. Denn auch «Lunar Park» ist der Versuch, einen neuen «Hamlet» zu schreiben. Ellis, der Romanheld, wird in einen Kampf mit dem Geist seines Vaters verwickelt, der die Villa in ein Spukhaus verwandelt.

Vor diesem Hintergrund erhält die eingangs zitierte Beckett-Parodie eine neue Bedeutung. Wenn Ellis-Hamlet sein Leben unter dem Einfluss des Vater-Geistes mit einem «beschissenen Beckett-Stück» vergleicht, ist darin auch eine Lektüre von Beckett impliziert: Ellis behauptet, dass dessen abstrakte, leer laufende Dialoge deshalb zustande kommen, weil die Figuren in der Position von Hamlet gefangen sind.

So sehr man Ellis wegen der unverbindlichen Coolness seiner Texte bisweilen belächeln mag: Das ist eine ernst zu nehmende These. Äusserst präzise bezieht er sich nämlich auf die Forschungsdiskussion über Beckett. Wenn er behauptet, dass Becketts Figuren in der «Hamlet»-Tradition stehen, folgt er Bloom. Anders als dieser bewertet er aber das Ergebnis. Was bei Bloom aus dem Kampf mit dem Vater-Geist resultiert, ist gemäss Ellis mitnichten ein neues, meisterhaftes Drama auf dem Niveau von Shakespeare. Sondern das Ergebnis ist «ein beschissenes Stück», das täglich geübt werden muss, ohne dabei je über den Status der Probe hinauszukommen. Insofern hält sich Ellis also auch an Adorno. Wie dieser hebt er die Aspekte der «Antikunst» und der endlosen Wiederholung hervor.

Damit liefert Ellis eine dritte, völlig neue Deutung von Beckett. Gegen Bloom beharrt er darauf, dass er kein traditioneller Dichter war, sondern «Antikunst» produzierte. Aber gegen Adorno argumentiert er, dass dies keinen Bruch mit der Tradition bedeutete. Die «Antikunst» steht, so das Fazit von Ellis, ganz unter dem gespenstischen Einfluss der Tradition. Sie mag zwar, wie Adorno sagt, versuchen, die herkömmliche Kunst als illusionär zu entlarven, aber dabei bleibt sie in deren Voraussetzungen gefangen.

Was lässt sich daraus für die Lektüre von «Lunar Park» gewinnen? Wie gesagt: Ellis verfolgt mit diesem Buch ebenfalls das Ziel, einen neuen «Hamlet» zu schreiben. Und wie der parodistische Tonfall des Beckett-Kommentars deutlich macht, mutet er sich durchaus zu, bei diesem Versuch das «Endspiel» zu übertrumpfen. Dem entspricht, dass der Romanheld Ellis am Ende die täglichen Beckett-Proben mit der Tochter aufgibt. Er befreit sich aus der Hamlet-Position, indem er das Gespenst seines Vaters zum Verschwinden bringt. Damit schafft der Autor Ellis, was seinem grossen Vorgänger Beckett versagt blieb: In «Lunar Park» geht die literarische Tradition zu Bruch.

Wie das gelingt? Das wird hier nicht verraten. Schliesslich steht das Buch noch druckfrisch in den Läden. Es sei an Becketts 100. Geburtstag all jenen empfohlen, die keine Lust haben, zur Feier des Tages mal wieder das «Endspiel» zu lesen.

Bret Easton Ellis: Lunar Park. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2006. 464 Seiten. 40 Franken