Glaube und Gesellschaft: Wenn Gott verdampft

Nr. 3 –

Auch wenn die Religionen ein Revival erleben - die Säkularisierung lässt sich nicht aufhalten. Doch was ist Religion eigentlich?

Gott lebt. Überall ist er wieder, nicht nur in den Herzen der Evangelikalen, die Jesus spüren und mit ihm auf Du sind. Religiöse Liberale setzen sich plötzlich für die Beibehaltung pointiert christlich orientierten Religionsunterrichts an den Volksschulen ein, Linke berufen sich bei ihrem Widerstand gegen das Schlechte auf ihren solidarischen Gott. Vor allem aber lebt Gott an der Front, die das «Abendland» wieder vom Orient trennt, das Christentum vom Rest der Welt. Angesichts der islamistisch inspirierten, jedoch multikausal motivierten Gewaltakte sind wir alle - fast alle - primär wieder Christen und Christinnen. Beruht unsere «Mentalität» nicht auf evangelischen Werten wie Toleranz und Verständnis, hebt unsere demokratische Verfassung nicht mit «Im Namen Gottes des Allmächtigen» an, ist unser freiheitlicher «Kulturkreis» nicht zutiefst christlich?

Die Rückkehr der Religionen ist ebenso unübersehbar wie der immer häufiger auftauchende Kampfbegriff «Kulturkampf», der den Schlüssel zum Verständnis vielschichtiger sozialer und politischer Auseinandersetzungen liefern soll. Das religiöse Gedröhne, das seinen weihevollsten Ausdruck in der ehrfürchtigen medialen Dauerbeschäftigung mit dem barocken Katholikenkaiser findet, kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Europa seit bald einem halben Jahrtausend auf dem stetigen Weg der Säkularisierung befindet. Dieser Begriff umschreibt zwei ineinander verschränkte historische Prozesse der Verweltlichung des Religiösen: die institutionelle und rechtliche Distanzierung von Staat und Kirche sowie die schwindende Macht der Religion, das Leben der Menschen normativ zu lenken und mit Sinn auszufüllen.

Entzauberung

Paradoxerweise wurde der erste Säkularisierungsschub durch die Reformation des 16. Jahrhunderts eingeleitet. Zwingli, Calvin und Luther konnten den neuen Glauben etablieren, weil sie von den bürgerlichen Eliten unterstützt wurden. Im Gegenzug unterstellten sie ihre neuen Kirchen der weltlichen Herrschaft und gaben damit den absoluten Machtanspruch der katholischen Kirche auf. Vor allem aber entzauberten die Reformatoren das Gottesbild: Sie transformierten Gott von einer mit allerlei magischen Mitteln beeinflussbaren und von Heiligen, Märtyrern und Jungfrauen sekundierten Macht in eine fern von dieser Welt wirkende, abstrakte Instanz. Hatten in vorchristlicher Zeit verschlagene und gewalttätige Götter und Göttinnen im Diesseits in Bergen, Seen und Büschen gewaltet, so wirkte nun ein tendenziell rationales Prinzip im Jenseits.

Der zweite Säkularisierungsschub erfolgte in der Schweiz im 19. Jahrhundert im Sog der Französischen Revolution: Die radikalen Liberalen setzten erst neue Kantonsverfassungen durch und schufen dann 1848 den modernen Bundesstaat, der gegen den Widerstand der katholischen Kirche die rechtliche Gleichheit der Staatsbürger und individuelle Rechte wie die Glaubens- und Pressefreiheit verfassungsmässig verankerte. Den religiösen Konservativen war nicht nur die Glaubensfreiheit, sondern die egalitäre Rechtsordnung schlechthin ein Dorn im Auge, weil sie die ständisch-patriarchale Welt zu unterminieren drohte. Die demokratische Schweiz ist also nicht dank, sondern trotz der Kirche entstanden, und die modernen Normen des Rechtsstaates sind nicht mit, sondern gegen das Christentum durchgesetzt worden.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben wir in einer fast vollständig säkularisierten Gesellschaft. Den Landeskirchen droht über kurz oder lang der Verlust ihrer letzten Privilegien. Noch erhalten sie als öffentlich-rechtlich anerkannte Institutionen staatliche Zuschüsse und geniessen Steuerfreiheit. Doch kirchenkritische Kreise fordern immer wieder die konsequente Trennung von Kirche und Staat und damit deren Versetzung ins Privatrecht. Freilich wird dann der Staat für die zahlreichen karitativen Leistungen der Kirchen aufkommen müssen.

Die Landeskirchen haben zudem fast jeglichen gesellschaftlichen Einfluss verloren. Als sie sich letztes Jahr vehement gegen die eidgenössische Asylvorlage einsetzten, verweigerten ihnen die stimmberechtigten Bürger und Bürgerinnen pietätlos die Gefolgschaft. Musste sich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts rechtfertigen, wer eine den Lehren und Dogmen der Kirchen widersprechende Ansicht vertrat, sehen sich die Kirchen - besonders die katholische - heute gezwungen, ihre Moralvorstellungen öffentlich zu begründen. Seit den siebziger Jahren verlieren sie massiv Mitglieder. Mittlerweile gehört in den städtischen Gebieten ein Drittel der Bevölkerung keiner offiziellen Kirche mehr an. Immer mehr Gläubige legen das Christentum sehr frei aus, pflegen einen diffusen Privatglauben und zweifeln am Kern der christlichen Botschaft, der einst ihre Attraktivität für Unterprivilegierte ausmachte: der Erlösung im Jenseits. Bis zu einem Drittel der städtischen Bevölkerung glaubt nicht mehr an ein Leben nach dem Tod - von den traditionellen Destinationen Himmel und Hölle ganz zu schweigen.

Rückzugsgefecht

Und das unübersehbare religiöse Revival? Die erstarkenden christlich-fundamentalistischen wie die esoterisch-neuheidnischen Spiritualitäten, die jenseits der christlichen Konfessionen ins Kraut schiessen, sind wohl im europäischen Raum nicht viel mehr als ein Rückzugsgefecht der Religiösen angesichts des voranschreitenden Säkularisierungsprozesses und der mit ihm einhergehenden «Verdampfung Gottes», wie es der Soziologe Ulrich Oevermann formuliert. Umso realitätsfremder mutet die allenthalben zu beobachtende «Religionisierung» von sozialen und kulturellen Differenzen an: Der in der Schweiz aufgewachsene, algerischstämmige Jugendliche wird wie die eingewanderte Bosnierin oder der ältere Türke unterschiedslos als Muslim identifiziert - als wäre die Religionszugehörigkeit sein einziges Charakteristikum und als besässe er kein wichtigeres.

Freilich bedeutet Säkularisierung nicht, dass die Religion einfach von der Bildfläche verschwindet, wie sich das die materialistische Aufklärung des 18. Jahrhunderts oder der messianische Kommunismus des 20. Jahrhunderts erhofften. Die Religion ist zwar je länger, desto mehr verweltlicht: eine Religion ohne Kirche, ohne Glauben an einen Gott und an die Erlösung. Doch ihr gänzliches Verschwinden wäre ein Novum. Alle bis heute bekannten menschlichen Gemeinschaften quer durch Zeiten und Räume haben das Merkmal des Religiösen gemein.

Mit Religionen versuchen menschliche Gemeinschaften seit Jahrtausenden, Bedrohungen sinnhaft zu bewältigen, die von einem gewöhnlichen Menschen nicht kontrolliert werden können. Die «Erfahrung des Ausseralltäglichen», so der Religionssoziologe Martin Riesebrodt, bezieht sich auf drei Bereiche: die Natur, das Soziale und den Körper. Die Natur: Wenn das Wetter so schlecht ist, dass die Ernte ausfällt, wird eine Hungersnot wahrscheinlich - also opfert der Zauberer dem Regengeist und dem Sonnengott. Das Soziale: Wenn Anarchie herrscht, beeinträchtigen blutige Kämpfe um die Macht im Staat das Alltagsleben - also akzeptieren die Bürger und Bürgerinnen, meist, die sich göttlich legitimierenden Herrscher. Der Körper: Wenn Krankheit nicht abgewendet werden kann, droht der Tod - also beten wir für Gesundung und um Erlösung. Die Priester und die Pfarrerinnen, denen die Aufgabe zukommt, im Interesse der Gemeinschaft mit den überweltlichen Mächten heilsame Beziehungen zu unterhalten, sollen sich dafür einsetzen, dass wir genug zu essen haben, in Frieden leben können und vor allem den Gedanken an den Tod ertragen.

Letzte Stunde

In den letzten Jahrhunderten freilich haben sich die Gewichte zwischen diesen drei religiösen Bereichen markant verschoben: Zwar legitimiert sich die politische Elite noch immer auch mit dem Ritual des religiösen Eides, doch in einer in ständiger Nahrungsmittelknappheit lebenden Gesellschaft hatte die Bedrohung durch Naturgewalten und deren magische Beeinflussung einen höheren Stellenwert als heute. Dafür scheint sich gegenwärtig vielen Menschen die Frage nach dem Tod und dem Danach dringlicher zu stellen als in einer Zeit, in der man von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus von den Deutungsgeboten der Kirche geleitet wurde. Seit die religiös garantierte Gewissheit oder wenigstens die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod geschwunden sind, muss der Einzelne den schwer erträglichen Gedanken der Endlichkeit seines Lebens und des Näherrückens der unwiderruflich letzten Stunde alleine aushalten und bewältigen.

Aber wie? Zeichnet sich eine künftige säkularisierte Religion in den Umrissen einer neuen Sinnfindung ab, die nicht länger nur aus der Leitungsethik, sondern aus der therapeutischen Betreuung, der Aufopferung für die Gemeinschaft, dem hedonistischen Exzess oder dem ästhetischen Empfinden schöpft? Welche dieser Varianten sich durchsetzt, wird für die Zukunft der Gesellschaft und ihre sozialpolitische Gestaltung mit erheblichen und ganz verschiedenen Folgen verbunden sein. Oder wird Religion eines Tages doch verlöschen und spurlos verschwinden wie die Menschen, die ihrer einst bedurften?


Verwendete Literatur



• Ulrich Oevermann, Manuel Franzmann: «Strukturelle Religiosität auf dem Wege zur religiösen Indifferenz», in: Manuel Franzmann, Christel Gärtner, Nicole Köck (Hg.): «Religiosität in der säkularisierten Welt». VS Verlag. Wiesbaden 2006. Seiten 49-82.

• Martin Riesebrodt: «Fundamentalismus, Säkularisierung und die Risiken der Moderne», in: Heiner Bielefeldt, Wilhelm Heitmeyer (Hg.): «Politisierte Religion». Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1998. Seiten 67-90.

• Jörg Stolz: «Wiederkehr der Religionen? Die schweizerische Glaubenslandschaft im Wandel», in: Stapferhaus Lenzburg (Hg.): «Glaubenssache». Hier und Jetzt Verlag. Baden 2006. Seiten 124-131.