Arbeitslos: «Da stimmt doch etwas nicht»

Nr. 8 –

Vom ersten Tag an lief alles schief mit der Arbeitsvermittlung in Biel. Doch nach unzähligen Briefen hat Patrick Bieri Recht bekommen.

Patrick Bieri klemmt sich die kinnlangen Haare hinter das Ohr und rückt die Brille zurecht. Ja, wo soll er denn anfangen? «Es begann wohl alles mit dem Umzug nach Biel», sagt er. Zuvor lebte der heute 39-jährige Informatikingenieur in Baden und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung. Im September 2004 wurde er erstmals arbeitslos und meldete sich auf dem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV). «Im Kanton Aargau ging alles gut, mein Betreuer vom RAV war hilfsbereit und der angebotene Kurs sehr nützlich», sagt Bieri und betont dies auch deshalb, weil er seine späteren Erfahrungen nicht verallgemeinern will. Im September 2006 zieht Patrick Bieri nach Biel und meldet sich dort beim RAV an.

Patrick Bieri blättert durch das dicke Dossier, das er mittlerweile angelegt hat. 150 Seiten, wovon seine eigenen E-Mails und Briefe den grössten Teil ausmachen. Damit hat er alle möglichen Personen informiert - «bombardiert», werden einige der AdressatInnen das nennen.

In Biel wurde Patrick Bieri zum obligatorischen Informationstag aufgeboten. «Zwei Ausländer kamen ein paar Minuten zu spät und wurden vom zuständigen Berater furchtbar heruntergeputzt», erzählt Bieri. Er hilft ihnen, indem er ihnen die Infoblätter weitergibt, und glaubt heute, das sei der Anfang all seiner Unbill gewesen.

Die erste Drohung

Als Bieri Ende Oktober erstmals auf seinen neuen RAV-Berater trifft, teilt ihn dieser als arbeitsrechtliche Massnahme sogleich in ein «Programm zur vorübergehenden Beschäftigung» ein - in jenes für «Integration». Laut der Fondation gad, die das Programm durchführt, sind dessen Zielgruppe «Klienten, bei denen die Bereitschaft für eine intensive Stellensuche grundsätzlich vorhanden ist, die aber auf Unterstützung angewiesen sind; Klienten, bei welchen nicht nachvollziehbar ist, weshalb sie keine Stelle finden; Klienten, die ein Defizit im Selbstmarketing aufweisen».

Die Ziele dieser Beschäftigungsmassnahme habe er längst erreicht, sagt Patrick Bieri. «Ich habe deshalb nachgefragt, wozu das für mich gut sein soll», erzählt Bieri. Der Berater antwortete mit einer Gegenfrage: «Darf ich Sie also grad wieder beim RAV abmelden?» Dies sei die erste Drohung gewesen, meint Bieri. Er war gegen eine Anmeldung für dieses Programm. Der RAV-Berater nimmt sie trotzdem vor - «ohne meine Kompetenzen abzuklären», wie Bieri ihm vorwirft. Später wird er herausfinden, dass beim RAV Biel die meisten Angaben zu seiner Person und seiner Laufbahn ohnehin falsch in den Computer eingegeben wurden.

Unterdessen ist es Anfang November. Bieri beschwert sich beim Leiter des RAV, schreibt von «Machtmissbrauch» und bittet darum, einem neuen Berater zugewiesen zu werden. Er hat festgestellt, dass sein Dossier zur Arbeitslosenentschädigung, das vom RAV weitergeleitet werden sollte, nicht bei der Arbeitslosenkasse angekommen ist. Einige Zeit später wird sein Dossier in Aarau auftauchen - zwei Monate lang irrt das Dossier zwischen den Amtsstellen herum. «Das war kein simpler Irrtum», in Aarau hätten seine Angaben nun wirklich nichts mehr zu suchen gehabt.

Patrick Bieri ist mittlerweile überzeugt, dass alle Fehler zusammenhängen. Er beginnt Briefe und E-Mails zu schreiben, an alle möglichen Stellen. So kontaktiert er die Leitung der Arbeitslosenkasse, die Ombudsstelle des Berner Amtes für Wirtschaft (Beco), dessen Leiter sowie den zuständigen Regierungsrat des Volkswirtschaftsdepartements und die Aufsichtskommission des Grossen Rates im Kanton Bern.

Das RAV Biel bietet ihm schliesslich ein Gespräch mit dem Leiter und seinem zuständigen Berater an. Bieri seinerseits bittet Ulrich Hans Kästli, den Ombudsmann des Beco, ihn zu begleiten. Dieser sieht allerdings «die Voraussetzungen für eine Intervention nicht erfüllt». Heute möchte Kästli keine Auskunft zum Fall Patrick Bieri geben - er dürfe das auch gar nicht. Seine Rolle beschreibt er als jene eines Mediators: Wenn jemand Probleme mit Amtsstellen habe, dann versuche er zu schlichten. Rund hundert entsprechende Anfragen pro Jahr gelangen so an ihn. Kästli verweist für weitere Auskünfte an den bis Ende Woche abwesenden Leiter des Beco, Adrian Studer.

Beratungstermine verweigert

Abwesend blieb auch Bieri - und zwar von seinen Terminen beim RAV in Biel: «Ich wollte denen keine Möglichkeit geben, mich noch weiter zu schikanieren», sagt er. Er weigert sich weiterhin, den verschriebenen Integrationskurs zu besuchen und auch zu den Beratungsterminen zu erscheinen - «bis die Vorkommnisse aufgeklärt sind», wie er allen zuständigen und auch nicht zuständigen Stellen schreibt. Unterdessen sucht er selbstständig Arbeit, was er der Arbeitslosenkasse belegen wird. Und er bleibt detektivisch unterwegs, um seine verschwundenen Unterlagen zu suchen, und er macht auf die Fehler der verschiedenen Amtsstellen aufmerksam.

Welche Fehler denn? Er sei, zum Beispiel, auf den 11. November ohne seine Zustimmung von der Arbeitslosenkasse abgemeldet worden. Auf seine Beschwerde hin wird er gleichentags wieder angemeldet. Oder der Fehler mit den «Einstelltagen» - Tagen also, für die er kein Arbeitslosengeld erhält als Sanktion dafür, dass er die Beratungstermine nicht einhielt und sich weiterhin weigert, das Programm Integration zu besuchen. Der Entscheid über diese Sanktion sei Ende November gefällt worden, «doch eingezogen wurden die Tage schon zu Beginn des Monats, und ich habe für November überhaupt keine Taggelder erhalten», sagt Bieri.

Er beschwert sich wieder. Und wieder. Sogar bei der Polizei, ohne aber Anzeige zu erstatten. «Das werde ich eventuell noch tun», sagt er, «wegen Amtsmissbrauch und Nötigung.» Oder wegen Mobbing. Er kämpft auch deshalb weiter, weil er glaubt, nicht alleine zu sein, sondern dass noch viele andere Arbeitsuchende von ihren BeraterInnen gemobbt würden. Heinz Hofmann, Anwalt und Leiter der Mobbingzentrale Schweiz, sind allerdings ausser Bieri keine weiteren Fälle bekannt, und er möchte auch nicht darüber spekulieren. Immerhin sagt er: «Die menschliche Dimension wird von den RAV überhaupt nicht aufgefangen.» Rein strukturell sei dies kaum möglich: «Die Berater sind in einer schwierigen Situation und von überallher unter Druck.» So lautet auch die Einschätzung der Soziologin Chantal Magnin, die sich im Rahmen ihrer Forschungen mit der Situation der RAV beschäftigt hat (vgl. Interview Seite 25).

«Schnittstellenprobleme»

Patrick Bieri sucht weiterhin nach Erklärungen. Einige erhält er auch: Beco-Leiter Adrian Studer schreibt ihm, es gebe da «Schnittstellenprobleme, die anzugehen sind», und gibt zu, dass es Fehler gab. Die Arbeitslosenkasse korrigiert die Termine der ausgesprochenen Sanktionen auf später. Die Einsprachen gegen diese Sanktionen sind allerdings noch hängig. Schliesslich bietet die Leiterin des Beco-Rechtsdienstes an, die Sanktionen sogar aufzuheben, wenn er die Einsprachen dagegen zurückzieht. «Das empfand ich als ‹Deal›, mit dem ich nicht wirklich Recht bekommen hätte», sagt Patrick Bieri und insistiert weiter. Von da an hat Bieri anscheinend Erfolg. Nicht nur, dass er im Februar eine neue befristete Stelle als Dozent für Betriebsorganisation und Projektmanagement an der Höheren Fachschule in Ittigen antreten kann. Auf Anfang Januar wird er, ohne seine Einsprachen zurückziehen zu müssen, einem anderen RAV, in Lyss, zugeteilt. Im Januar werden die Sanktionen, sprich die Einstelltage, aufgehoben - «vollumfänglich», wie das RAV Biel betont. Beco-Leiter Adrian Studer schreibt auch, dass er ein Gespräch mit den involvierten Personen führen werde, «um bestimmte Aspekte des Umgangs mit Klientinnen und Klienten zu thematisieren». Selbst der zuständige Regierungsrat schreibt ihm: Er möchte informiert bleiben und hoffe, dass sich die Angelegenheit in eine positive Richtung entwickle. Doch Patrick Bieri ist noch nicht zufrieden. Er legt eine aufsichtsrechtliche Beschwerde bei der Volkswirtschaftsdirektion ein, die derzeit noch hängig ist.

Warum denn ist die Geschichte für Bieri nicht abgeschlossen, obwohl er schliesslich Recht bekommen hat? «Weil meine Fragen nicht beantwortet wurden.» Er wolle wissen, ob das alles mutwillig geschehen sei und ob die zuständigen Stellen intervenieren würden. Er glaubt nicht, dass er der Einzige sei, der mit dem RAV Probleme habe: «Da stimmt doch etwas nicht», sagt er. Er packt sein dickes Dossier in den Rucksack und sagt, er wolle halt einfach wissen, ob es da nicht endlich etwas zu verbessern gebe.

«Die Beratenden haben viel Macht»

WOZ: Welche Aufgaben haben die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren RAV?

Chantal Magnin: Die RAV haben in den neunziger Jahren die Rolle der Arbeitsämter der Gemeinden übernommen. Seither werden die Arbeitsuchenden intensiver beraten und müssen nicht mehr stempeln. Gleichzeitig wurde auch das Angebot an Kursen und Programmen vergrössert, und die Teilnahme daran wurde obligatorisch.

Wie werden die entsprechenden Kurse und Programme ausgewählt?

Nach Gutdünken der RAV-Mitarbeitenden. Die Kantone stellen das Angebot bereit. Aber diese Kurse von privaten Anbietern sind ein eigenes Thema. Die Qualität scheint mir dort nicht immer garantiert.

Wem sind die RAV-Beratenden verpflichtet? Den Arbeitsuchenden oder dem Staat?

Beiden. Es gibt Beratende, die sich vor allem den Menschen verpflichtet fühlen und sie nachhaltig beraten wollen. Aber die offizielle Politik ist auch, dass die Leute rasch vermittelt werden müssen, um wenig Kosten zu verursachen.

Deshalb sind die Beraterinnen gleichzeitig auch Kontrollinstanz.

Ja, sie beurteilen, ob sich die Arbeitsuchenden genügend bemühen, und sie können im Zweifelsfall finanzielle Sanktionen aussprechen, mit denen bei den Leistungen der Arbeitslosenversicherung indirekt noch mehr gespart wird. Die RAV-Beratenden haben sehr viel Macht: In ihrer Hand befinden sich die Beratung, die Kontrolle und auch die Sanktionen. Da kann es passieren, dass die Macht missbraucht wird.

Die Arbeitslosen stehen grundsätzlich unter Verdacht, gar nicht arbeiten zu wollen.

Ja, und das wirkt kontraproduktiv: Um nicht in Missbrauchsverdacht zu kommen, verhalten sich die Arbeitsuchenden eher strategisch geschickt als komplett ehrlich. Dadurch können die Beratenden ihnen aber weniger gut helfen. Ein System, das Eigenverantwortung verlangt und gleichzeitig eine Kontrolle vorsieht, ist in sich widersprüchlich.

Wie werden die RAV-BeraterInnen angeworben?

Das ist ganz unterschiedlich. Sie kommen beispielsweise aus der Erwachsenenbildung oder aus Sozialberufen. Einige waren selber arbeitslos und in den unterschiedlichsten Bereichen tätig. Das finde ich gut, weil sie die Branchen besser kennen.

Dafür gehen sie weniger einfühlsam mit den Arbeitsuchenden um?

Das kann sein. Die berufsbegleitende Ausbildung beim RAV ist im Bereich Beratung sicher weniger fundiert als jene für Berufe im Sozial- und Gesundheitswesen.

Ist der Fall Patrick Bieri speziell?

Vielleicht darin, dass er schon bei der ersten Beratung in ein Programm eingeschrieben wurde. Das ist mir so noch nie begegnet, normalerweise wird damit ein paar Monate gewartet, bis die RAV-Beratenden herausfinden, was der Arbeitsuchende braucht und was nicht. Besonders ist auch, dass er sich so hartnäckig bei den Behörden wehrt.

Funktioniert das System der RAV?

Es kommt darauf an, woran man das misst. Viele Leute sind unzufrieden. Aber Arbeitslosigkeit bedeutet oft mehr als «keine Arbeit» und kann der Anfang einer Krise sein. Das kann von den RAV nicht präventiv aufgefangen werden.

Chantal Magnin ist Soziologin, Mitinhaberin eines Forschungsbüros in Bern und Hochschuldozentin.