ETH Zürich: «Wie gut sind wir wirklich?»

Nr. 8 –

Seit dem unfreiwilligen Rücktritt ihres Präsidenten ist es um die renommierteste Schweizer Hochschule ruhig geworden - doch intern wird lebhaft diskutiert. Rektor und Interimspräsident Konrad Osterwalder blickt, kurz vor seiner Pensionierung, zuversichtlich in die Zukunft.

WOZ: Herr Osterwalder, wie ist die Stimmung an der ETH?

Konrad Osterwalder: Soweit ich sehe, sehr gut - und erwartungsvoll gespannt, denn es sind zwei wichtige Wahlprozesse im Gang, die die Geschicke der ETH für die nächsten paar Jahre bestimmen werden: die Wahl des Rektors und die Wahl des Präsidenten.

Man hört, die Stimmung sei nach dem Rücktritt von Präsident Ernst Hafen vergangenen November so gut wie selten - nicht aus Schadenfreude, sondern weil dieser Rücktritt eine intensive Diskussion der Hochschulpolitik unter den Professorinnen und Professoren mit sich gebracht habe.

Das habe ich auch so erlebt, und es hat mitgeholfen, dass Kolleginnen und Kollegen sich noch stärker mit den bildungspolitischen Fragen der Schule befassen. Neben der Präsidenten- und Rektorenwahl ging es in den letzten Wochen um den Leistungsauftrag des Bundesrats für den ETH-Bereich für die Jahre 2008 bis 2011.

In diesem Leistungsauftrag, der an Ihrer Schule auf viel Kritik stiess, steht unter anderem: «Die ETH verbessert ihren Platz an der Spitze der internationalen Forschung.» Im alten Leistungsauftrag hiess es noch: «konsolidiert ihren Platz». Im gescheiterten Reformprojekt ETH 2020 war die Idee, zu den weltweit Allerbesten gehören zu wollen, zentral. In Gesprächen mit WissenschaftlerInnen stelle ich viel Unbehagen über diese Weltspitzerhetorik fest. Wissenschaftsphilosoph Michael Hampe hat geschrieben, die Hochschulranglisten würden vom Messinstrument zum Selbstzweck.

Wenn man nicht besser werden will, wird man schlechter. Man muss besser werden, weil die Konkurrenz besser wird, und weil es neue Konkurrenten gibt - in China, Korea, Indien. Besser werden bedeutet auch: sich laufend den neuen Anforderungen anpassen oder, noch besser, sie vorwegnehmen. In dem Sinne: Ja, natürlich, wir wollen noch deutlicher in die Spitzengruppe vorrücken. Andererseits: Die Sorge um die Überbewertung der Ranglisten teile ich voll und ganz. Solche Vergleiche zeigen nie die ganze Wahrheit. Die Aspekte, die für mich besonders wichtig sind, werden in den Rankings nicht berücksichtigt, weil sie sich schlecht quantifizieren lassen.

Nämlich?

Wichtig ist für mich die Antwort auf die Frage: Mit welchen anderen Universitäten können wir im Wettbewerb um hervorragende Professoren und Professorinnen, um gute Studierende konkurrieren? Und: Wie gut bewähren sich unsere Absolventinnen und Absolventen im Berufsleben?

In welchen Disziplinen will die ETH mit anderen Spitzenunis wetteifern? Konzentriert man sich auf Forschungen, die zur Lösung der dringendsten Probleme der Gesellschaft beitragen können - Klimawandel oder die Millenniumsentwicklungsziele? Oder tut man, was am meisten Prestige, Sponsoringverträge und Publikationen verspricht, wie Ihre Schwesterschule, die ETH Lausanne, deren Präsident Patrick Aebischer sagt: «Info-Nano-Bio sind die Disziplinen, in die wir investieren.»

Vieles, was wir tun, geht stark in die Richtung, die Sie zuerst skizzierten: Energie, Klima, Gesundheit, Sicherheit. Das sind für uns grosse, sehr wichtige Themen. Aber das andere, was Sie jetzt etwas abschätzig auf Prestigestreben reduziert haben, hat auch eine grosse gesellschaftliche Relevanz, wenn auch vielleicht mit einem etwas anderen Zeithorizont. Denken Sie etwa an den medizinischen Fortschritt.

Wenn man sich die Indikatoren anschaut, aufgrund deren das Geld im ETH-Bereich verteilt wird, so werden die Disziplinen, die Prestige, Publikationen, Patente und Sponsoren bringen, einseitig bevorzugt. Kommen da nicht die anderen Disziplinen zu kurz?

Die Indikatoren müssen fachbereichsweise verglichen werden. Wenn Sie die Zahl der Publikationen in Architektur und Physik vergleichen, ist das natürlich ein Fehler. Natürlich hat die Wahl der Indikatoren immer auch einen Steuerungseffekt. Ein Gremium, das Gelder gemäss Indikatoren verteilt, muss sich darum fragen: Ist der Steuerungseffekt der richtige, der gewünschte? Und: Die Reaktion auf solche Steuerungen erfolgt meist verzögert. Da kann man zwar zu korrigieren versuchen, aber die Planungssicherheit ist dann sehr infrage gestellt. Wichtig wäre Folgendes - und der ETH-Rat betont das vielleicht zu wenig: Indikatoren geben Anhaltspunkte, aber letztlich sollte es immer ein strategischer Entscheid sein, wie viel Geld wohin geht. Wenn die Indikatoren zum Beispiel zeigen, dass eine Institution in einem Bereich schwach ist, dann können Sie sagen: Wir schliessen diesen Bereich, andere können das besser. Sie können aber auch folgern: Diesen Bereich brauchen wir, wir stärken ihn erst recht.

Nach dem Willen des Bundesrats sollen in den kommenden Jahren mehr Mittel des Bundes im Wettbewerb vergeben werden als bisher und weniger Mittel als feste Sockelfinanzierungen. Auch das löst Unbehagen aus. Viele sagen: Wir müssen so viele Anträge schreiben und Sponsorengelder einwerben, dass wir kaum mehr Zeit für Forschung und Lehre haben. Verteidigen da verwöhnte WissenschaftlerInnen ihre Pfründen?

Anträge schreiben ist an sich nichts Schlechtes - dass sich die Leute, bevor sie mit ihrer Arbeit beginnen, erst einmal genau überlegen müssen, was sie wollen, kann ja nicht schaden. Aber es ist schon so, dass es einer der Wettbewerbsvorteile der beiden ETHs vor allem gegenüber den US-amerikanischen Universitäten war, dass wir eine solide Grundfinanzierung hatten, für die man nicht jedes Mal einen Antrag schreiben musste. Ausserdem kommt es auf die Erfolgschance an: Bei dem Schweizerischen Nationalfonds hat ein Antrag eine fünfzigprozentige Chance, angenommen zu werden; bei europäischen Projekten wird nur etwa jeder zehnte Antrag bewilligt. Die Professoren, die ich neu eingestellt habe, nannten alle als Grund, weshalb sie an die ETH wollen: Ich will wieder mehr Zeit haben für meine Forschung, statt ständig Anträge schreiben zu müssen. Ich hoffe sehr, dass wir diesen Vorteil erhalten können.

Also: Der wettbewerbsfreie Raum als Wettbewerbsvorteil?

Sicher nicht wettbewerbsfrei, aber ein Raum, in dem der Wettbewerb sich in einem vernünftigen Mass hält.

Das Unbehagen der Wettbewerbsrhetorik gegenüber hat auch mit einer Angst zu tun, dass Wissenschaft immer stärker einem wirtschaftlichen Nützlichkeitsdenken unterworfen wird. Setzt die Wissenschaftspolitik die Prioritäten falsch?

Ich glaube nicht. Ich bin der Meinung, dass der Frage noch zu wenig Beachtung geschenkt wird, ob man mit dem, was die Forschung herausfindet, etwas Nützliches anstellen kann. Das ist kein Votum gegen die Grundlagenwissenschaften. Aber viele Entdeckungen liegen in unseren Institutionen ungenutzt herum. Gutes Funktionieren der Wirtschaft ist eine Voraussetzung dafür, dass die Hochschulen genug Geld haben, um gut zu arbeiten. Wer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ein feindliches Verhältnis sieht, macht deshalb einen Denkfehler. Eigentlich müsste jeder ETH-Angehörige mit einem kleinen Teil seiner Zeit in etwas verwurzelt sein, das mit dem täglichen Leben zu tun hat. Aber gewiss: Wenn man nur noch an das Nützliche denkt, dann steht die Forschung in zehn Jahren still.

Hat denn die Wissenschaft nichts mit dem täglichen Leben zu tun?

Es gibt Fragestellungen, die schon sehr weit vom täglichen Leben entfernt sind. Wenn Sie denken, dass die europäischen Staaten Milliarden dafür ausgeben, um herauszufinden, ob es Higgs-Bosonen gibt ... Interessant ist natürlich auch solche Forschung, und es ist auch ein Bedürfnis des Menschen, auf solche Fragen eine Antwort zu suchen, Fragen wie: In welcher Welt leben wir, wer sind wir, was wollen und was können wir?

Zurück zum Verhältnis Wissenschaft-Wirtschaft. Kurz nach dem Rücktritt von Ernst Hafen sagte ETH-Ratspräsident Alexander Zehnder, man suche nun «einen neuen CEO» für die Wirtschaft.

Ich mag solche Gleichsetzungen nicht sehr. Es gibt verschiedene Typen von Institutionen, und die brauchen verschiedene Führungsmodelle. Es gibt in einer Hochschule und einer Firma natürlich auch gemeinsame Aspekte, und man kann voneinander lernen. Aber man sollte nicht die Sprache verflachen und die gleichen Begriffe für Verschiedenes verwenden. Ein erfolgreicher Leiter einer Hochschule ist nicht einem CEO aus der Industrie gleichzusetzen.

Die Angst, die Wissenschaft werde von der Industrie zu sehr dominiert, findet gelegentlich Ausdruck in der überspitzten Schreckvision von Professorinnen und Professoren, die mit Nestlé-T-Shirts und IBM-Schirmmütze dozieren. Vor ein paar Tagen kam die ETH dieser Karikatur sehr nahe: Microsoft projizierte riesig das Logo seines neuen Betriebssystems auf die Fassade des ETH-Hauptgebäudes. Ist das die Zukunft unserer Universitäten?

Die Leute, die sich auf diese Weise einspannen lassen - das sind, vom Typ Mensch her, nicht die Leute, die ich an der Hochschule haben möchte. Eine Schule wie unsere braucht als Lehrer und Forscher Leute, die genügend selbstständig sind und sich nicht so einfach vereinnahmen lassen. Viele unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten in der Industrie viel mehr verdienen. Aber sie haben einen anderen Weg - den der Akademia, der Forschung und der Lehre - gewählt, aus einer Berufung heraus. Daraus kann man wohl schliessen, dass solche Leute sich nicht so leicht kaufen lassen.

Von der Wirtschaft zur Politik. Das Verhältnis der ETH zu ihrem Aufsichtsorgan, dem ETH-Rat, gilt als schwierig - zumal der starke Mann im ETH-Rat Patrick Aebischer sein soll, der Präsident Ihrer direktesten Konkurrentin, der ETH Lausanne. Sie sitzen seit November selbst in diesem Gremium. Wie nehmen Sie das Verhältnis wahr?

Aufgrund der paar Sitzungen, die ich bis jetzt mit dem ETH-Rat erlebte, und der Gespräche, die ich mit Herrn Aebischer geführt habe, ergibt sich bei mir nicht das Gefühl, dass es da ein unlösbares Problem gibt, auf jeden Fall nicht von unserer Seite. Ich will mit Patrick Aebischer kooperieren und ihn auch zur Kooperation mit uns herausfordern. Ich denke, wir sollten uns gegenseitig - persönlich und als Institutionen - respektieren und dort, wo es beiden Vorteile bringt, die Zusammenarbeit fördern. Ich glaube, das nützt auch der Schweiz am meisten. Es schadet schlussendlich beiden Seiten, wenn man sich immer wieder öffentlich gegenseitig herabzuwürdigen versucht. Solange die beiden ETHs aber aus dem gleichen Topf finanziert werden, ist es unvermeidbar, dass wir in gewissen Situationen auch in direkter Konkurrenz stehen. Mit dem neuen Hochschulgesetz wird diese Konkurrenz wohl mehr auch noch auf die kantonalen Universitäten ausgeweitet werden.

Sie gehen im Herbst in Pension. Fällt Ihnen das, nach dem turbulenten Finale als Rektor und Interimspräsident, schwer oder leicht?

Es fällt mir leicht, denn ich habe das Privileg, mit einer gewissen Befriedigung auf die letzten Jahre zurückzublicken. Jetzt ist es Zeit für neue Leute und neue Ideen. Ich werde mit Interesse verfolgen, wie sich die ETH weiterentwickelt.

Haben Sie Pläne?

Ich habe verschiedene Pläne, aber ich hatte mir vorgestellt, ich könnte in meinem letzten Jahr als Rektor in Ruhe abschliessen, meine Nachfolgerin oder meinen Nachfolger einarbeiten und mich auf die Zeit danach vorbereiten. Daraus ist nun nichts geworden.

Zur Person

Konrad Osterwalder, Jahrgang 1942, ist seit 1995 Rektor der ETH Zürich. Der Rektor ist, neben dem Präsidenten und zwei Vizepräsidenten, Mitglied der Schulleitung, wo er für die Lehre zuständig ist. Er wird von der Professorenschaft zur Wahl vorgeschlagen. Seit dem unfreiwilligen Rücktritt von ETH-Präsident Ernst Hafen nach nur elf Monaten im vergangenen November amtet Osterwalder auch als Präsident und vertritt die ETH im ETH-Rat, dem Aufsichtsgremium über die beiden ETHs und vier eidgenössische Forschungsanstalten. Konrad Osterwalder studierte an der ETH Physik und kam 1977 als Professor für Mathematik wieder an die ETH. Im Sommer geht er in Pension. Sowohl die Stelle des Rektors wie die des Präsidenten werden neu besetzt.