China: An der langen Leine

Nr. 51 –

Noch vor Jahresfrist schien die Regierung der Volksrepublik härter gegen Religionsgemeinschaften vorgehen zu wollen. Doch davon ist derzeit wenig zu spüren. Momentaufnahmen aus dem Reich der Mitte.


«Wir haben das noch nicht festgelegt», sagt Theresa Liu. Ihrer Stimme ist anzuhören, dass sie über dieses Thema nicht gern spricht: «Eigentlich sollten es fünf Yuan sein. Aber letztes Jahr kamen so viele Besucher. Es war zu voll! Da haben wir dann zehn Yuan genommen. Aber eigentlich sollten es fünf sein». Worüber die katholische Nonne aus der an Nordkorea grenzenden chinesischen Provinz Jilin nicht gerne spricht, ist der Eintrittspreis, der jetzt um die Weihnachtsfeiertage für die Kathedrale von Jilin-Stadt verlangt werden wird.

Die vor über hundert Jahren von französischen Missionaren erbaute Kathedrale im Stadtzentrum liegt in einer Schleife des Songjiang-Flusses. Da fast alle alten Gebäude der nordchinesischen Millionenstadt der Modernisierung zum Opfer gefallen sind, ist die Kathedrale eine der wenigen verbliebenen Sehenswürdigkeiten. Das ganze Jahr über lassen sich hier Hochzeitspaare fotografieren. Und zu Weihnachten müssen JilinerInnen, die sich westlich-gebildet geben wollen, und TouristInnen, die einfach nur neugierig sind, ein Ticket kaufen. In wenigen Tagen wird vor der Kirche ein Schild stehen mit dem noch festzulegenden Eintrittspreis.

Überall in China ist an den Spruchbannern und Schildern leicht zu erkennen, welches gesellschaftliche Problem gerade wichtig ist. Steht an Bauernhäusern überall «Wenig gebären, gut gebären, ein Leben lang glücklich sein», deutet das darauf hin, dass die Geburtenkontrollkommission nicht sehr erfolgreich war. Liest man auf den roten Bannern vor der Dorfschule «Auch Mädchen sind Stammhalter», dann fehlt es hier an Gleichberechtigung von Mann und Frau. Und wenn in entlegenen Dörfern in der südchinesischen Provinz Guizhou Tafeln «Drogen anbauen ist ein kriminelles Delikt» verkünden, wissen alle, dass hier Opium zu bekommen ist.

Und so wird auch das Schild vor der Kathedrale in Jilin auf eins der Probleme der katholischen Kirche Chinas hinweisen - den chronischen Geldmangel. Durchschnittlich achtzig Prozent der Einnahmen der chinesischen Diözesen kommen aus dem Ausland. Die Kirchgemeinden können sich Reparatur und Instandhaltung der alten Gebäude oft nicht leisten. Entweder werden diese dann vom Kulturamt übernommen und in Museen umgewandelt - oder sie verfallen.

Demokratische Bischofswahl

Vor der Kirche im etwa hundert Kilometer von Jilin-Stadt entfernten Changchun hängt derzeit ein grosses rotes Banner mit der Aufschrift: «Der Himmel gibt göttliche Gnade, im rechten Moment handelt die Regierung nach dem Willen des Volkes» - denn diese hat einen Teil der Renovierungskosten der Kirche bezahlt. Hier im äussersten Nordosten Chinas sind die Beziehungen zwischen katholischer Kirche, der katholischen Laienorganisation Patriotische Vereinigung und der Regierung recht gut. Die Bischöfe sind von Rom und Peking anerkannt - das ist in China nicht überall so.

Manchmal ernennt der Papst den neuen Bischof aus Listen der Domkapitel, der verantwortlichen Gremien der jeweiligen Bischofskirchen -, manchmal wählt das Domkapitel den Bischof aus einem römischen Dreiervorschlag - es gibt verschiedene Methoden des Vatikans, einen neuen Bischof auszuwählen. Die chinesische Regierung lehnt diese jedoch ab. Sie besteht darauf, dass alle Priester einer Diözese ihren Bischof in einer freien, gleichen und geheimen Wahl wählen. So geschah es auch bei Wang Renlei in der Diözese Xuzhou. Da aber selbst die chinesische Regierung die Tradition insofern achtet, als dass bei der Bischofsweihe drei Bischöfe zugegen sein müssen, stand sie vor dem Problem, welche Bischöfe sie herbeizitieren sollte.

Schliesslich fuhr bei Bischof Li Liangui aus der Diözese Xian in Hebei ein Wagen der Regierung vor. Er sollte ihn zu einer «Schulung» in der Provinzhauptstadt Shijiazhuang abholen. An sich nichts Ungewöhnliches - politische «Schulungen» stehen für alle religiösen Würdenträger Chinas regelmässig an. In Shijiazhuang angekommen, wurde Bischof Li aber gleich weiter nach Xuzhou gebracht, um bei der Weihe von Wang Renlei zu assistieren - gegen seinen Willen.

«Am Morgen vorher hat Bischof Li dann gesagt, er wolle joggen gehen», erzählt Priester Xu. «Zwei Sicherheitsleute sind ihm gefolgt. Aber er hat dauernd die Richtung gewechselt, sodass er den beiden ständig entgegenkam. Das wurde denen zu peinlich und sie sind zurückgekehrt.» Diese Gelegenheit nutzte Bischof Li, um abzuhauen; er lieh sich etwas Geld und fuhr dann mit öffentlichen Verkehrsmitteln in seine Bischofsresidenz zurück. Welche Folgen hatte das für ihn? Priester Xu winkt ab: «Ach was, zwei Woche Schulungen oder so. Er hat nachher zu den Leuten vom Religionsbüro gesagt, sie sollten ihm dankbar sein, dass er nicht in Hebei abgehauen ist, sondern in [der Provinz] Jiangsu. So hätten sie keine Verantwortung ...»

Anders als im Westen oft behauptet, ist die chinesische Religionspolitik nicht immer kompromisslos und aus Unterdrückung ausgerichtet - solange die nationale Souveränität und territoriale Integrität nicht gefährdet scheinen, geht die Regierung pragmatisch vor. Das grösste Problem der katholischen Kirche Chinas ist ohnehin hausgemacht: der fehlende Nachwuchs. Die meisten Diözesen Chinas sind zwar schon notgedrungen dazu übergegangen, auch Einzelkinder als Priesteramtskandidaten oder Nonnen zu akzeptieren (katholische Männerorden sind in der Volksrepublik China verboten). Aber trotz dieser Lockerung und aller teueren Anreizen wie einem Auslandsstudium oder im Falle von Einzelkindern der Übernahme der Versorgung der Eltern finden sich nur wenige InteressentInnen.

Zwei Prozent Toleranz

«Das ist wohl noch nicht endgültig festgelegt worden», sagt Meela, eine neunzehnjährige Tibeterin. Zu Hause sind sie sieben Kinder - fünf Mädchen und zwei Jungen. Für die Familie war es selbstverständlich, dass einer der beiden Jungen als Lama ins Kloster gehen sollte. Die Frage war nur, welcher. Ein Orakel eines Rinpoche, des Würdenträgers des lokalen Klosters, gab die Antwort.

Aber jetzt ist Meela wegen dieses Bruders in Sorge. Sie hat Gerüchte gehört, dass die Regierungen tibetischen Lamas, die ihre Gelübde widerrufen, eine Belohnung anbietet. Um welche Summe es sich handelt, weiss sie nicht. Sie kennt auch niemanden, den die Belohnung interessieren würde. Zumindest die grossen und bekannteren tibetischen Klöster haben weder finanzielle Probleme noch einen Mangel an Nachwuchs. Deren Probleme sind anderer Art: «Es gibt jetzt eine neue Vorschrift: Alle Lamas müssen ein Dokument mit sich führen - keinen Personalausweis und auch keinen hukou», eine Art Wohnberechtigung. Es sei ein neues Dokument - nur für Lamas. «Wer ohne erwischt wird, kommt ins Gefängnis. Aber nicht alle Mönche bekommen eins», sagt sie. Laut dem Gerücht sollen in dem Kloster, in dem sich ihr Bruder befindet, 300 der gut 1000 Mönche keine Dokumente bekommen. «Weil das mit der Belohnung nicht wirkt, werden die einfach weniger Dokumente ausstellen. Es soll besonders die Lamas im Alter zwischen zwölf und sechzehn Jahren betreffen», sagt Meela. Ihr Bruder ist fünfzehn. «Wenn er wieder nach Hause käme, wäre das für ihn und die ganze Familie schrecklich.»

Vor dem Pekinger Lama-Tempel steht ein Schild, das auf die «Sicherheitsmanagementbestimmungen für religiöse Stätten» hinweist. Festgelegt wird hier alles Mögliche - und zwar bis ins kleinste Detail. Zum Beispiel beträgt die maximale Länge von zum Verbrennen zugelassenen Weihrauchstäbchen 400 Millimeter mit einer Toleranzgrenze von zwei Prozent. Und auch dieses Schild weist auf eins der Probleme in China hin - das fehlende Recht auf Selbstbestimmung.

Staatlich geprüfte Wiedergeburt

Am 29. November 1995 wurde der sechsjährige Gyaincain Norbu von der chinesischen Regierung als elfter Panchen Lama anerkannt. Im Religionsgesetz vom September 2007 bekräftigte Peking noch einmal ausdrücklich seinen Anspruch, «lebende Buddhas» identifizieren zu können. Woher kennt eine erklärtermassen atheistische Regierung nicht nur die gottgefällige Länge von Weihrauchstäbchen auf acht Millimeter genau, sondern weiss auch, wer die Reinkarnation des Panchen Lamas und somit das zweithöchste religiöse Oberhaupt der TibeterInnen ist? Der vom Dalai Lama im Jahre 1995 als wiedergeborener Panchen Lama identifizierte Gedhun Choekyi Nyima wurde hingegen von chinesischen Sicherheitsbehörden entführt und an einen bis heute unbekannten Ort gebracht.

Traditionell wurden in Tibet Reinkarnationen immer von angesehenen Lamas oder Rinpoches identifiziert. Aber in China wendet sich die Regierung dagegen - und auch dagegen, dass Lamas ihren Abt oder ihre Äbte und die wichtigsten «lebenden Buddhas» wählen. Insbesondere der Panchen Lama musste unbedingt durch das Los aus einer goldenen Urne, die «traditionelle Methode der Qing-Dynastie», bestimmt werden. Als der «offizielle» elfte Panchen Lama, Gyaincain Norbu, einmal in Meelas Heimatstadt kam, sei alles voll von Sicherheitsbeamten gewesen. «Selbst auf den öffentlichen Klos waren sie», sagt Meela. «Wir Lamas mussten auch hingehen», fügt Tsomo hinzu, der im selben Kloster wie Meelas jüngerer Bruder ist. «Aber die Bevölkerung hatte kein Interesse.»

Tsomo hat freilich noch andere Neuigkeiten aus seinem Kloster. «Im März wollten die Behörden unsere Grundschule schliessen», erzählt er. «Aber gleich unterhalb des Klosters gibt es eine Kunsthandwerksschule - Thanka-Malerei, Holzschnitzerei, alles für Sachen, die im Kloster gebraucht werden. Als die Regierung ihre Kontrolleure schickte, haben wir jedem der Kinder aus der Klosterschule irgendwelche Schnitzwerkzeuge in die Hand gedrückt.» Das sei zur Bewahrung der handwerklichen Kultur, sagten sie den Beamten. «Die von der Regierung sind auch Menschen. Bis jetzt haben sie uns weitermachen lassen.»

Entspannt sich 2009 die Lage weiter? Tsomo winkt ab. Nächstes Jahr komme vieles zusammen: «Sechzig Jahre Staatsgründung der Volksrepublik, fünfzig Jahre Lhasa-Aufstand und Flucht des Dalai Lama ins indische Dharamsala, zwanzig Jahre Proteste in Lhasa und Vergiftung des zehnten Panchen Lama.» Ausserdem «sitzen die im letzten Jahr verhafteten DemonstrantInnen immer noch im Gefängnis, Angehörige dürfen sie nicht besuchen ... und jetzt hat auch noch der Dalai Lama die Macht an den tibetischen Jugendverband übergeben.» Tsomo senkt den Blick und streckt seine Zunge heraus. Und dann sagt er leise: «Wir mögen auch die Dharamsala-Exiltibeter nicht. Die kommen, hetzen die Leute auf, aber wenn es mit den Problemen losgeht, sind sie längst wieder in Indien. Wir müssen immer alles ausbaden. Nächstes Jahr wird alles nur schlimmer.»


Endzeitstimmung in Nordchina

Nein, von denen kenne er niemand. Und er wolle auch keinen kennenlernen. Priester Xu schüttelt den Kopf. «Die entführen Leute und haben es besonders auf Priester abgesehen.» Xu spricht von den AnhängerInnen der Kirche des Allmächtigen Gottes, die auch «Östlicher Blitz» heisst. Wie viele dieser Gemeinschaft angehören, ist unbekannt; ab und zu taucht die Zahl 300 000 auf. All diese Leute glauben, dass Christus auf die Erde zurückgekehrt ist, dass sie (es handelt sich um eine Frau) in Nordchina geboren wurde und sich in der Provinz Henan aufhält.Viel mehr Informationen gibt es nicht. 1989 verliess sie die Schule, 1992 begann sie zu predigen. Über eine Million Wörter hat sie seitdem gesprochen und ein Buch geschrieben, das sich auf die Apokalypse bezieht, die biblische Offenbarung des Johannes, in der ein roter Drache wütet.

Wegen antikommunistischer («China ist das Reich des Roten Drachen») und endzeitlicher («Der neue Jesus ist gekommen und sie wird die Welt zerstören») Lehren wurde die Gemeinschaft verfolgt, besonders heftig im Jahr 1997. Und obwohl es 2006 gewalttätige Zusammenstösse mit der rivalisierenden Glaubensgemeinschaft Status der Drei Dienenden gab, bei denen mindestens sechzehn Menschen ums Leben kamen, scheint die Zahl der «Blitz»-AnhängerInnen weiterzuwachsen. Mit eine Rolle dabei spielt das schlechte Bildungsniveau der ländlichen Bevölkerung Nordchinas - und die von Priester Xu erwähnte Methode der Entführung. Generell operiert die Sekte mit Angst: Auf ihrer englischsprachigen Website listet sie über 200 Fälle «von Zehntausenden» auf, wo Menschen angeblich starben, weil sie nicht an den neuen Jesus glauben wollten.

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