Opel in Belgien: Eine Prämie fürs Verpissen

Nr. 38 –

Noch hoffen die verbliebenen Beschäftigten des Opel-Werkes im belgischen Antwerpen auf neue InvestorInnen. Doch wenn sich bis Ende Monat niemand findet, verlieren auch sie ihren Job. Die Betroffenen, seit Jahren in Sorge um ihren Arbeitsplatz, schwanken zwischen Frust, Hoffnung und Apathie.

Für Paul Oste begann das Bangen um seinen Arbeitsplatz vor zehn Jahren: Während seiner Sommerferien in Frankreich im Jahr 2000 erhielt der Fliessbandarbeiter einen Anruf von seiner Mutter. Das Opel-Werk in Antwerpen, in dem er damals seit bereits achtzehn Jahren beschäftigt war, solle geschlossen werden. Sorgenvoll kehrte der Vater einer Tochter nach den Ferien an seinen Arbeitsplatz zurück. Die Ungewissheit blieb all die Jahre bestehen.

Inzwischen ist Oste 51 Jahre alt und zum Frührentner geworden. Sein letzter Arbeitstag liegt mehr als drei Monate zurück; er gehört zu den 1250 MitarbeiterInnen, die im Mai entlassen wurden. Eine Ferienwoche in der Türkei wurde zum ersten Stück Wirklichkeit als Rentner nach seinem Ausscheiden aus dem Betrieb. Oste hatte die Reise lange zuvor gebucht und ursprünglich geglaubt, er werde danach erholt an seinen Arbeitsplatz zurückkehren. «Doch das war nicht mehr nötig.» Oste ist auf eigenen Wunsch in den Vorruhestand getreten. Was bleibt, sind Arbeitslosengeld plus Prämie. 1400 Euro (1850 Franken) monatlich.

Am 20. Januar 2010 hat die Opel-Besitzerin General Motors (GM) angekündigt, das Opel-Werk in Antwerpen endgültig zu schliessen. Doch noch immer hofft man in der Stadt auf eine Rettung des Produktionsstandorts. InvestorInnen könnten die Fabrikhallen auf dem 900 000 Quadratmeter grossen Werkgelände übernehmen und mit den verbliebenen Beschäftigten etwas Neues produzieren. Allerdings bleibt nur noch bis Ende September Zeit, diese InvestorInnen zu finden. Danach will GM das Gelände weiterverkaufen. Für alle wäre dann am Jahresende Schluss. Endgültig.

Gewerkschafter mit Herzproblemen

Alle vierzehn Tage treffen sich die Regierung Flanderns, die Werksleitung und die Gewerkschaften, um über Lösungsvorschläge zu beraten. Laut belgischen Zeitungen soll es mehr als hundert InteressentInnen geben. Das Management hält sich bedeckt.

Der Gewerkschafter Rudi Kennes ist ein Jahr jünger als Paul Oste. Er wurde in den letzten Jahren zum öffentlichen Gesicht des Überlebenskampfs bei Opel Antwerpen. Rudi Kennes, seit 31 Jahren im Betrieb, vertritt den sozialistischen Gewerkschaftsbund ABVV im Werk. Man kennt ihn als unerschütterlichen Optimisten. Gerade ist er aus dem Krankenhaus entlassen worden, er hatte Herzprobleme – ein Warnschuss: Noch im letzten Jahr sagte er, Opel sei wichtiger als seine Gesundheit. Künftig will Kennes versuchen, etwas herunterzuschalten. Er weiss aber, dass das nicht leicht wird: «So einen Job kannst du nicht nur halb machen.»

In diesem Jahr war bisher konstanter Ausnahmezustand. Er begann mit der Erklärung vom «unglücklichen Ergebnis der gegenwärtigen Geschäftsrealität». So nannte Nick Reilly, der für Europa zuständige Direktor von GM, den Entscheid, das 1925 gegründete Werk zu schliessen. Antwerpen opfern, damit Opel überlebt – diese Logik von Reilly leuchtet am Standort nicht ein. Am selben Tag errichteten die Gewerkschaften einen Kontrollposten am Tor zum Werkgelände. Zunächst liessen sie kein fertiges Auto mehr passieren. Als der Konzern drohte, den Nachschub an Chassis und Motoren für die Verarbeitung zu stoppen, änderten die BelegschaftsvertreterInnen die Strategie. Sie hielten 5000 frisch vom Band gerollte Astras zurück: «Unsere Kriegsbeute», sagt Kennes. Danach wurden täglich wieder 500 Autos – die Tagesproduktion – ausgeliefert.

Paul Oste sagt, ihm sei spätestens 2007 klar geworden, dass General Motors das Werk in Antwerpen definitiv schliessen werde. Damals inspizierte eine Arbeitsgruppe alle Opel-Werke, die für die Produktion eines überarbeiteten Astra-Modells infrage kamen: Ellesmere Port (England), Bochum (Deutschland), Gliwice (Polen), Trollhättan (Schweden) und Antwerpen. Dabei wurde auf die Umsetzung der internen GM-Richtlinien geachtet: Qualität, Kostenpreis, Sicherheit, Anzahl der Reklamationen und Umweltaspekte. Von diesen Kriterien werde die Entscheidung abhängen, hiess es. Antwerpen erreichte bei der Beurteilung die Höchstbewertung. Doch den Zuschlag bekamen die Werke in Deutschland, England und Polen. Ein Schock, sagt Paul Oste. «Von da an verstanden wir, dass es vorbei war.» Kurz darauf wurden 2200 ArbeiterInnen entlassen, fast die Hälfte der damals noch 4700 Beschäftigten.

«Wir sind alle Opel»

In Antwerpen sind alle überzeugt, dass das Werk aus politischen Gründen schliessen soll. Belgien habe zu wenig Einfluss ausgeübt. In einem ausrangierten Linienbus, den der ABVV am Kontrollposten abgestellt hatte, argumentierte Rudi Kennes im Februar 2010 leidenschaftlich gegen die Pläne des Managements: Antwerpen habe 2009 Gewinn erwirtschaftet, der Standort sei «eine Henne, die goldene Eier legt». Dennoch verfüge Belgien als kleiner Standort über keine Lobby.

Kennes, Vizevorsitzender im europäischen Opel-Betriebsrat, wehrt sich gegen das verbreitete Bild, dass sich jeder Arbeiter selbst der Nächste sei und Opel-Beschäftigte in Bochum lieber die eigene Haut gerettet sähen als die der belgischen KollegInnen. «Ich kann nur für die Gewerkschaften sprechen, aber von uns aus müssen alle europäischen Fabriken erhalten bleiben!» Am Tisch sitzt ein ABVV-Mitarbeiter und feilt an der neuen, gesamteuropäischen Proteststrategie. Er zeigt das Logo: «Wir sind alle Opel» steht darunter.

Für Paul Oste sind das leere Worte. «Solidarität?», fragt er, fasst sich mit einer Hand an die Nase und dreht sie heftig um: Wieso sollte ausgerechnet den ArbeiterInnen das Hemd nicht näher sein als die Hose? Dann folgt ein Exkurs über die Standortvorteile Antwerpens: niedrige Transportkosten, die Docks gleich um die Ecke, der Zug fährt direkt aufs Werkgelände. «Hast du das in Kaiserslautern oder Eisenach? Ich denke nicht.» Die Lohnkosten seien auch nicht höher. Also, folgert er, geht es um Politik: «500 Millionen Euro habe die flämische Regierung für den Erhalt des Werks angeboten. Das ist doch viel zu wenig.»

«Wie ein geprügelter Hund»

Geld ist auf dem Werkgelände ein dominierendes Thema. Den ganzen April über zogen sich die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Betriebsleitung um die Modalitäten der Schliessung hin. Es ging um den Sozialplan und darum, wie lange noch nach einem Investor gesucht wird. Dabei hatten die Gewerkschaften die 5000 Astras, die sie seit drei Monaten zurückhielten, als Pfand in der Hand. Für Abfindungen in der Höhe von maximal 144 000 Euro (190 000 Franken) pro Person rückten sie es heraus. Ausserdem wurde eine Regelung für eine Frühpensionierung ab fünfzig erreicht, und pro Person gibt es noch 2295 Euro (3000 Franken): «Verpissprämie», sagt Paul Oste dazu. Eigentlich hatte er sich auf die Frühpension gefreut. Doch als er dann im Mai zum letzten Mal aus seiner Schicht kam, erschrak er. «Eher wie ein geprügelter Hund» fühle er sich. Sein Rücken ist kaputt, im Hals sitzt Arthrose: «Fliessbandarbeit zerstört dich.» Trotzdem: Gäbe es einen Knopf, mit dem Paul Oste das Werk erhalten könnte, er würde ihn drücken.

Für R. H., der seinen Namen nicht nennen will, geht das Warten dagegen weiter. Er ist 34 und auch schon seit vierzehn Jahren bei Opel. Die längste Zeit davon wusste er nicht, wie es weitergeht, und die Kurzarbeit wurde mehr und mehr zum Normalzustand. Zwölf Tage Schicht, zehn Tage zu Hause, mit Wechsel von Gehalt zu Arbeitslosengeld. Immerhin: Damit ist es fürs Erste vorbei, denn bis zum Jahresende soll es im normalen Schichtbetrieb weitergehen. Die Informationslage über mögliche InvestorInnen ist spärlich. Es bestehe eine «reelle Chance» – so die letzten, vagen Informationen in den lokalen Medien. Noch immer scheint die Tür einen Spalt offen, doch auf R. H.s Gesicht zeigt sich Resignation. Wenn es vorbei sei, findet er, sei die Entlassungsprämie eigentlich nicht genug. Schmerzensgeld wäre angebracht. «Sie haben uns kaputtgemacht, körperlich und psychisch.»


General Motors : Ein Koloss stellt sich neu auf

Es war lange unklar, ob General Motors (GM) die Wirtschaftskrise überleben würde: Der Konzern musste 2009 Konkurs anmelden und überlebte nur dank einer von den USA und Kanada finanzierten Neugründung. Rund fünfzig Milliarden US-Dollar überwies Washington vergangenes Jahr an die Konzernzentrale in Detroit, etwa zehn Milliarden schoss Ottawa ein. Alte Aktien von GM wurden wertlos, und SchuldnerInnen mussten auf grosse Teile ihrer Forderungen verzichten. Die Zahl der GM-Beschäftigten in den USA sank mit der Neugründung von 91 000 auf 68 500. Die Gewerkschaften stimmten zudem schlechteren Anstellungsbedingungen zu.

Heute gibt sich der Konzern optimistisch. Nach vier Wechseln innert rund zwei Jahren steht jetzt Daniel Akerson als Konzernleiter an der Spitze. Sein Jahresgehalt beläuft sich auf 1,7 Millionen US-Dollar cash sowie 7 Millionen in Aktienoptionen. Die USA und Kanada wollen noch dieses Jahr mit dem Verkauf ihrer Aktienanteile beginnen. GM schrieb im zweiten Quartal 2010 einen Gewinn und hofft auf das Interesse privater InvestorInnen. Die Gewerkschaft der AutomobilarbeiterInnen zeigt sich über den «Turnaround» von GM erfreut, der im Geiste von «Innovation, Flexibilität und Partnerschaft» erfolgt sei.

Ursprünglich plante GM, all seine europäischen Betriebe abzustossen. So wurde Saab an die niederländische Firma Spiker verkauft. Im Fall von Opel entschied sich GM aber Anfang November 2009, die Firma zu behalten. Anfang dieses Monats genehmigte der GM-Verwaltungsrat eine Vereinbarung des Opel-Managements mit den BelegschaftsvertreterInnen: Von den noch rund 48 000 Arbeitsplätzen in Europa werden 8000 abgebaut. Neben der Schliessung des Werks in Antwerpen fallen etwa im deutschen Bochum über 1800 von 5000 Stellen weg. Weitere Kündigungen soll es bis 2014 nicht mehr geben. Die Beschäftigten müssen allerdings in den nächsten vier Jahren mit Lohneinbussen von rund einer Milliarde Euro rechnen. Dafür sollen sie 2014 3,75 Prozent und ab 2015 gar 7,5 Prozent des Konzerngewinns erhalten. Daniel Stern