Liquid Democracy: Experimentieren, wie man anders entscheidet

Nr. 20 –

Demokratie beschränkt sich zunehmend auf politische Repräsentation und nimmt keinen Einfluss auf ökonomische Machtverhältnisse. Auch Parteien wie die deutschen Piraten betreiben höchstens symbolische Politik. Oder lassen sich aus der Freien-Software-Bewegung Anregungen für eine «freie Assoziation der ProduzentInnen» holen?

Über die Gründe für den Erfolg der Piratenpartei in den jüngsten Kommunal- und Landtagswahlen in Deutschland wird weiterhin gestritten. Zumindest so viel steht fest: An den konkreten Positionen liegt es nicht – Datenschutz, digitale Nutzungsrechte oder bedingungsloses Grundeinkommen würden kaum Hunderttausende mobilisieren.

Die Attraktivität der Partei hat vielmehr mit symbolischer Politik zu tun. Die PiratInnen funktionieren als Projektionsfläche. Man findet sie gut, weil sie den herrschenden Politikbetrieb unterlaufen. Manchmal scheint der Partei dieser Antrieb selbst nicht ganz geheuer. Auf die Kritik, seine Partei habe keine Ahnung von Demokratie, da sie ja noch keinen einzigen parlamentarischen Antrag gestellt habe, antwortete der Berliner Piraten-Sprecher Christoph Lauer unlängst wie ein beleidigter Schülersprecher: Seine Partei habe durchaus «Anträge zum Petitionsgesetz, zum Wahlalter und zum Fraktionsgesetz» eingereicht; ausserdem sei der Kritiker selbst ja Beamter und nicht Abgeordneter – und damit dem demokratischen Prozess fremd.

Auch andere führende PiratInnen biedern sich dem Politikbetrieb an und wiederholen mantraartig, man müsse «jetzt erst einmal lernen». Doch auch wenn die PiratInnen angepasster sind, als sie selbst vermutlich meinen, teilen sie mit ausserparlamentarischen Bewegungen wie dem spanischen Movimiento 15-M (der Protestbewegung, die am 15. Mai 2011 begann) doch eine wichtige Eigenschaft: Wie diese sind sie eine Reaktion auf die Krise der Repräsentation – auf die wachsende Kluft also zwischen formaldemokratischem Rahmen und gesellschaftlicher Realität. Doch warum hat das repräsentative System überhaupt in so vielen Ländern an Integrationsfähigkeit verloren?

Gesetz der Oligarchie

In Deutschland wird gern auf die Erklärung verwiesen, «die Berufspolitik» habe sich von den WählerInnen entfernt. Die These hat Stammtischniveau, verfügt aber über einen wahren Kern. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass professionelle Repräsentation zur Herausbildung eigenständiger sozialer Gruppen führt, die ihre Existenz dann dauerhaft mit Klientelstrategien zu sichern versuchen. Der (später zum italienischen Faschismus konvertierte) Parteiensoziologe Robert Michels hat das bereits 1911 nachgezeichnet. Seine These: Die Führungsgruppen von Parteien sondern sich selbst dann als Machtzirkel ab, wenn sie prinzipiell herrschaftskritischen Organisationen wie etwa der Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg vorstehen. Kommunistische Linke widersprachen Michels’ «ehernem Gesetz der Oligarchie» in der Folge zwar erbittert, doch gerade die Geschichte des Realsozialismus verweist ja darauf, wie stark Parteibürokratien dazu tendieren, sich in gesellschaftliche Herrschaftseliten zu verwandeln.

Mit Organisationssoziologie allein lässt sich die Krise der Repräsentation nicht erklären. Dass in Spanien vor den Regionalwahlen 2011 die Bewegung 15-M entstand, hatte massgeblich mit der Erkenntnis zu tun, dass es für die Sozial- und Wirtschaftspolitik im Land offensichtlich belanglos war, ob Konservative oder SozialistInnen regierten. Die Bewegung kritisierte weniger den Politbetrieb als die Tatsache, dass heute eigentlich überhaupt gar keine «Politik» mehr stattfindet.

Die rätedemokratische Kritik

Begründet wurde das mit der «Diktatur der Finanzmärkte»; andere verwiesen, ähnlich wie der britische Politologe Colin Crouch, auf den Identitätsverlust der europäischen Mitte-links-Parteien. Doch richtig überzeugen kann das nicht: Das Demokratieproblem im Kapitalismus ist älter als der Neoliberalismus. Die von Karl Marx kommende Theorie verweist seit 150 Jahren darauf, dass in einer marktförmigen Gesellschaft politische und ökonomische Herrschaft, anders als im Feudalismus, voneinander getrennt sind. Demokratie bleibt dabei auf das politische Feld beschränkt. So sorgt die bürgerliche Revolution zwar für formale Rechtsgleichheit, betrachtet den Staat aber gleichzeitig als Garanten sozialer und ökonomischer Ungleichheit. So entsteht eine Politik, die auf die entscheidenden Machtprozesse in der Gesellschaft keinen Einfluss besitzt.

Die sozialistische Linke – als der radikalste Flügel der Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts – hat vor diesem Hintergrund immer auch eine Demokratisierung des Arbeitslebens und eine Stärkung des Gemeineigentums gefordert. Als Gegenentwurf zur bürgerlichen Demokratie etablierte sie das Rätemodell, wie es 1871 in der Pariser Commune aufgeblitzt war. Anders als im parlamentarischen System waren hier alle Lebensbereiche (Produktion, Wohnen, Verteidigung et cetera) demokratisiert. Zudem konnten die Delegierten, anders als ParlamentarierInnen, jederzeit von der Bevölkerung abberufen werden: Das «freie», sprich indirekte Mandat, das von den bürgerlichen Verfassungsvätern ganz bewusst als Puffer zwischen Staatsmacht und Pöbel etabliert worden war, wurde durch das imperative ersetzt.

Die rätedemokratische Kritik hat nichts an Gültigkeit verloren. Die real existierende Demokratie heute ist nicht einfach nur durch bürokratische Abläufe und Lobbys deformiert. Ihr Grundproblem besteht vielmehr darin, dass die auf das Feld der «Politik» beschränkte Volkssouveränität in Anbetracht der ökonomischen Machtverhältnisse eine Farce bleibt. Der Hinweis der US-Regierung während der Finanzkrise, die Grossbanken seien «too big to fail», kam dem Kern der Sache recht nahe: Kapitalinteressen sind zu mächtig, als dass politisch wirklich über sie entschieden werden dürfte.

Aus diesem Grund kommt eine Demokratisierungsbewegung, die mehr will, als den politischen Betrieb für ein paar Jahre aufzupeppen, an der Eigentumsfrage nicht vorbei. Doch auch wenn die PiratInnen dazu keine Meinung haben und sich wohl auch keine bilden werden, ist vieles spannend, was bei ihnen passiert. Auf eine zentrale Frage der Demokratie nämlich – wie Teilnahme über einen längeren Zeitraum funktionieren könnte – haben rätedemokratische Konzepte bislang auch keine Antwort zu bieten: Nicht repräsentativ gehegte Demokratie hat bislang immer nur in kurzen politischen Aufbruchsphasen funktioniert. Doch wie soll es weitergehen, wenn die Euphorie verfliegt? Werden Debatten dann nicht zwangsläufig an ExpertInnen delegiert und von der Gesellschaft abgetrennt?

Dank der PiratInnen kennt man in Deutschland heute den Begriff der «liquid democracy». Das Modell beschreibt, dass BürgerInnen ihr Stimmrecht je nach Thema an Parteien oder gesellschaftliche Verbände delegieren oder auch selbst ausüben können. So würden repräsentative, Verbands- und direkte Demokratie miteinander verschränkt: Was aussenpolitische Fragen angeht, stimmt man selbst ab; bei Wirtschaftsthemen kann man seine Stimme einer Basisgewerkschaft geben. Der Clou ist, dass man die Repräsentation durch andere jederzeit aufheben kann. Alle entscheiden selbst, wie viel Zeit sie gerade selbst für demokratische Teilhabe aufbringen wollen.

Verflüssigung von Entscheidungen

In der Praxis wäre vieles daran problematisch: Wie will man umwelt-, sozial- und verwaltungspolitische Fragen trennen? Wie weit würde die Demokratisierung gehen, wenn die Massenmedien weiter in den Händen von Grosskonzernen blieben?

Trotzdem ist bemerkenswert, wie die PiratInnen heute parteiintern mit der «Verflüssigung» von Entscheidungen experimentieren. Mithilfe eigens produzierter Software wie Liquid Feedback hat man interne Diskussionen über das Netz und ohne Moderator strukturiert. Alle Mitglieder können Vorschläge verfassen, die Redaktion von Anträgen verläuft ähnlich wie bei Wikipedia als transparenter, offener Prozess, zur Diskussion und zur Abstimmung kommt nur jener Antrag, der von einem Mindestquorum für wichtig genug erachtet wird.

Das Schöne an gesellschaftlicher Praxis ist, dass man das Richtige tun kann, ohne genau erklären zu können, warum man es macht. Mit der Peer-to-Peer-Produktion – bei der Arbeitsprozesse zwischen ProduzentInnen ohne Markt, materielle Anreize und Hierarchien selbst organisiert und dezentral koordiniert werden – hat die (keineswegs kommunistische) Freie-Software-Bewegung der Gesellschaft Hinweise gegeben, wie eine «freie Assoziation der ProduzentInnen» jenseits von Markt und staatlichem Plan aussehen könnte. Mit dem pirateninternen Meinungsbildungs-Tool Liquid Feedback werden heute alternative Formen der Demokratie ausgetestet – auf «höchstem Stand der Produktivkräfte».

Raul Zelik lehrt politische Theorie an der Nationaluniversität Kolumbiens.