Liao Yiwu: «Ich schreibe die Geschichte von anderen»

Nr. 42 –

Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu ist am 14. Oktober 2012 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Im Gespräch erzählt er von inneren Gefängnissen und der befreienden Wirkung des Sichtbarmachens.

WOZ: Herr Yiwu, uns scheint, es gibt zwei Liao Yiwus: einen vor 1989, der ein Poet war, und einen nach 1989, der ein Schriftsteller geworden ist.
Liao Yiwu: Ja, Sie haben vollkommen recht, für viele Chinesen ist – oder war – das Jahr 1989 ein Wendepunkt, eine Trennlinie, weil geschossen wurde, weil diese Gewalt angewandt wurde. Und deshalb bin ich exemplarisch. Ich war ein Dichter, und nach 1989 bin ich ins Gefängnis gegangen, und anschliessend, nach der Entlassung, war mir klar: All meine physisch durchlebten Erfahrungen haben mich zu einem Schriftsteller gemacht.

Worin besteht der Unterschied zwischen Dichter und Schriftsteller?
Ein Dichter ist sehr romantisch, er kann seine Gedanken schweifen lassen, weit und breit, er kann sie durch die Welt reisen lassen. Als Schriftsteller hingegen betrachte ich mich heute als ein Aufnahmegerät der Zeit. Und als Chronist muss ich meinen Geschichten treu bleiben. Ich konzentriere meine Gedanken auf die Geschichten, die ich gehört habe, und denke sehr lange über sie nach.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mit aufgezeichneten Gesprächen zu arbeiten?
Es hat sehr, sehr lange gedauert, das Buch «Die Kugel und das Opium» fertigzustellen. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis habe ich mir gedacht: Keiner hat so ein Pech wie ich, und die Gesellschaft hat mich auch im Stich gelassen. Ich konnte mich nicht mehr selbst ernähren, deshalb bin ich Strassenmusiker geworden. Erst sehr spät, 2004, habe ich dann diese Leute kennengelernt, die in meinem jetzigen Buch, «Die Kugel und das Opium», erscheinen. Ich war so schockiert, ich wusste gar nicht, dass solche Leute immer noch existierten und wie sie leben – da habe ich mir gedacht: Donnerwetter, selbst ich kann so schnell vergessen, und deshalb habe ich dann angefangen, genau über deren Geschichte zu schreiben.

Wer sind diese Menschen?
Diese Menschen haben eine Bezeichnung, die ihnen das Regime gegeben hat. Sie heissen «Rowdys des 4. Juni», und sie sind die eigentlichen Hauptdarsteller des Tian’anmen-Massakers von 1989. Diese Leute haben Lkws in Brand gesetzt und sich vor die Panzer gestellt, haben mit ihrem Leib und Leben versucht, gegen Soldaten zu kämpfen, um die Studenten zu schützen. Deshalb betrachte ich diese Leute als Hauptdarsteller der Tian’anmen-Bewegung und des Massakers, aber ins historische Rampenlicht kommen nur die ganz wenigen elitären Studenten, die später ins Ausland gegangen sind.

Was kritisieren Sie an diesen Studenten respektive an den Intellektuellen?
Es gibt, meiner Ansicht nach, seit 1989 zwei Chinas: Das eine China ist sichtbar, und das andere ist untergründig, versteckt. Auch gibt es in China zwei Geschichten: Die eine Geschichte ist an der Oberfläche, die andere bleibt unsichtbar. Sichtbar war Liu Xiaobo: Er verfasste als ein elitärer Intellektueller viele Schriften, initiierte den Appell für die Demokratie in der Gesellschaft. Er war recht wirkungsvoll, hat bald auch im Internet Aufmerksamkeit erregt. Sogar die International Human Rights Organization setzte sich mit ihm in Verbindung und half ihm. Dann erfolgte die Veröffentlichung der Charta von 2008. Schliesslich hat er 2010 den Friedensnobelpreis bekommen. Das ist ein Werdegang, der sehr sichtbar ist. Jeder kann wissen, was Liu Xiaobo gemacht und wie er gelebt hat. Und das gilt nicht nur für ihn, sondern für eine ganze Reihe von Intellektuellen. Sie arbeiteten zusammen und haben gemeinsam die Charta von 2008 entworfen. Sie wollten die Konflikte um das Tian’anmen-Massaker durch Verhandlungen mit der Regierung friedlich lösen. Das alles ist sehr bekannt.

Und was wird dadurch verdeckt?
Unbekannt und unsichtbar geblieben sind eben die Randalierer des 4. Juni. Und doch waren sie mit den Studenten auf der Strasse. Sie haben sich gegen die Gewalt gestellt. Viele von ihnen wurden zum Tode verurteilt, hingerichtet, erschossen. Manche kamen für viele Jahre ins Gefängnis, und als sie endlich wieder rauskamen, wurden sie von der Gesellschaft im Stich gelassen. Sie haben noch einen ganz kleinen Wunsch tief, tief in ihrem Herzen, nämlich endlich, endlich Anerkennung von dieser Gesellschaft zu bekommen.

Auch in Ihrem Buch «Fräulein Hallo und der Bauernkaiser» haben Sie Aussenseitern der chinesischen Gesellschaft, den Menschen, die wir sonst nie hören, eine Stimme gegeben. Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen «Fräulein Hallo und der Bauernkaiser» und dem neuen Buch, «Die Kugel und das Opium»?
In «Fräulein Hallo und der Bauernkaiser» begegnet man stinknormalen Chinesen, im Alltag, in der Zivilgesellschaft Chinas. Solche Menschen gibt es überall, sie haben ihre Sorgen, ihr Leid und sind manchmal sehr schamlos. Und genau dieselbe Art von stinknormalen Leuten erscheint auch in meinem Buch «Die Kugel und das Opium» – nun aber in einer ganz grossen Zeit. Und da fühlen sich diese kleinen Leute aufgerufen, ihr Leben der Zeit zu widmen. Sie stellen sich ohne Angst dem Tod. In grossen Zeiten kann ein ganz kleiner, schüchterner Bürger zu einer so gediegenen Persönlichkeit werden.

Wie geht das vor sich, wenn Sie den Leuten eine Stimme geben? Wie gross ist der Unterschied zwischen dem realen Gespräch und dem, was nachher gestaltet im Buch erscheint?
Gespräche mit diesen Menschen zu führen, ist nicht einfach. Sie sind noch nie interviewt worden, sie kennen das nicht, und wenn sie den Mund aufmachen, um loszureden, wird es meistens sehr langwierig. Sie finden keinen Schwerpunkt. So schalte ich halt mein Aufnahmegerät an, führe endlose Gespräche, warte. Und wenn ich alle diese Kassetten zu Hause abhöre, denke ich: Das ist alles Nonsens, das hat überhaupt keinen Sinn und keinen Nutzen. Bis plötzlich ein paar wenige Minuten kommen, und da höre ich auf einmal, was in diesem Menschen vor sich geht und was mit ihm los ist.

Welches Risiko gehen die Randalierer des 4. Juni ein, die ja namentlich genannt sind im Buch?
Sie haben dieselbe Erfahrung gemacht wie ich: Die grösste Angst eines Menschen besteht nicht darin, dass ihm etwas widerfahren könnte, was ihm schadet. Sie besteht darin, dass man vergessen werden könnte. Ich denke deshalb, «Die Kugel und das Opium» ist ein Trost für die Randalierer des 4. Juni, und das ist für mich von grosser Bedeutung. Während meiner Gespräche mit den Randalierern habe ich beobachtet, dass sie dem Gefängnis noch nicht wirklich entronnen sind. Sie sitzen noch in einem unsichtbaren innerlichen und in einem gesellschaftlichen Gefängnis. Ich denke, mein Buch hilft ihnen, sich daraus zu befreien. Als sie mein Buch gelesen hatten, riefen sie: «Schau hier, das bin ich!» Und dann haben sie ganz fest geweint.

Am Ende des Vorworts schreiben Sie: «Ich muss mich jetzt befreien von 1989 und einen Aufbruch zu etwas anderem wagen.» Wie weit sind Sie schon in dieser Hinsicht?
Sich aus dem Gefängnis zu befreien, ist ein langer Prozess. Was meine Person anbelangt, so versuche ich, durch Musizieren mein Herz zu besänftigen. Ich schreibe oft über Leid und sehr schwierige Lebenserfahrungen, und das schmerzt mich selbst. Da spielt das Musizieren dann eine grosse Rolle. Auch der Alkohol hilft. Ich bin zwar kein Alkoholiker, aber ich trinke gern. Und wenn Sie mich heute fragen, wie weit ich mich aus meinem eigenen inneren Gefängnis befreien konnte, so muss ich zugeben: Es geht mir heute so gut wie noch nie in meinem ganzen Leben. Zurzeit befinde ich mich hier im Westen, und letztes Jahr habe ich eine grosse Reise gemacht, durch drei Kontinente. Das ist für mich wie ein Traum, das ist ein Wunder. Ich bekomme einen Preis nach dem anderen. Ich lebe in einer Dimension, die ausserhalb meines Horizonts liegt. Was ich aber konkret spüren kann, ist, dass sich meine Fähigkeit, Menschen zu helfen, die Hilfe brauchen, stark verbessert hat. Ich spüre darob eine ungeheure innere Freiheit und denke, dass auch die Befreiung aus meinem inneren Gefängnis bald erfolgen wird.

Können Sie ein Beispiel geben für diese erstarkte Fähigkeit, Menschen zu helfen?
Wenn ich den 17. Gyalwa Karmapa, den einzigartigen Nachfolger des Dalai Lama, nach Berlin an das Literaturfest einladen will, so kann ich das tun. Zum Zeitpunkt, als ich den Brief an den deutschen Aussenminister schrieb, um ihn zu bitten, Karmapa einzuladen, hatten sich 49 Tibeter selbst verbrannt. Als ich auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele stand, um die Eröffnungsrede zum Berliner Literaturfest zu halten, waren es schon 51. Ich hatte den Wunsch, diese Selbstverbrennungswelle aufzuhalten. Die Tibeter müssen Hoffnung sehen – ihr einziger Hoffnungsträger ist der 17. Gyalwa Karmapa. Dass ich einmal die Fähigkeit besitzen würde, eine solche Persönlichkeit einzuladen und dadurch ein Zeichen zu setzen, hätte ich nie gedacht.

Sie haben offenbar noch viel dokumentarisches Material. Was sind Ihre literarischen Pläne?
Ja, wenn ich so zurückdenke, sehe ich, dass ich in der Tat sehr umfangreiche Materialien gesammelt habe. Ich will mir Zeit nehmen, dieses Material zu bearbeiten und nach und nach herauszubringen. Wenn ich mir meine Arbeit vergegenwärtige, komme ich zum Schluss, dass ich vielleicht der Schriftsteller bin, der am ausführlichsten über die chinesische Kommunistische Partei geschrieben hat. So gesehen, müsste ich dem Teufelsregime fast dankbar sein. Allerdings: Meine Freunde attackieren das Regime in der Öffentlichkeit. Ich dokumentiere, was passiert, Schritt für Schritt und Tropfen für Tropfen. Das mache ich. So kann man es auch verstehen: Die chinesische KP hat den Schriftsteller Liao Yiwu von oben bis unten, von unten bis oben reformiert.

Liao Yiwu : In China bis heute verboten

Der chinesische Schriftsteller und Musiker Liao Yiwu kam am 4. August 1958 in Yanting in der Provinz Sichuan zur Welt. Bereits in den achtziger Jahren in China als junger Dichter bekannt, schrieb er im Juni 1989 ein Gedicht über das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz, das als Tonbandaufnahme im Untergrund rasch Verbreitung fand. Im Februar 1990 wurde Yiwu wegen Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

Politisch verfolgt und gesellschaftlich verstossen, führte er nach seiner Entlassung 1994 zahlreiche Gespräche mit AussenseiterInnen der chinesischen Gesellschaft und verarbeitete auch seine Gefängnisjahre in einem Buch. Seine Werke sind in China bis heute verboten, Liao Yiwu lebt seit 2011 in Berlin im Exil.

Seine Gespräche mit sozialen AussenseiterInnen sind unter dem Titel «Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten» 2009 im Fischer-Verlag erschienen. In seinem soeben im selben Verlag erschienenen Gesprächsband «Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens» stehen die Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tian’anmen-Platz in der Nacht zum 4. Juni 1989 und deren Folgen im Zentrum.

Am Dienstag, 30. Oktober 2012, liest Liao Yiwu 
um 20 Uhr im Kaufleuten in Zürich.