Kommentar: Neu: Ein Interview als Gegendarstellung

Nr. 6 –

Der «Tages-Anzeiger» erfindet eine neue journalistische Form und schafft einen bedenklichen Präzedenzfall.

Man gesteht es nicht gerne ein, aber zuweilen unterlaufen einem als Journalisten auch Fehler. Das können eher harmlose sein, aber, selten, sind es auch ernsthaftere Fälle, wenn eine betroffene Person oder Organisation einen Sachverhalt nicht richtig dargestellt findet. Für solche Fälle gibt es laut Zivilgesetzbuch, Artikel 28g, ein Recht auf Gegendarstellung.

Seit neustem gibt es nun das Gegendarstellungsinterview.

Eingeführt hat es die Tamedia, und zwar im «Tages-Anzeiger» vom letzten Donnerstag.

Die neue Form wurde aufgrund einer weiter zurückliegenden Affäre erfunden: «Tages-Anzeiger.ch/Newsnet» hatte im Juni 2012 über den damaligen Zürcher SVP-Politiker Alexander Müller berichtet. Dieser habe in einem Twitter-Beitrag eine neue «Kristallnacht für Moscheen» gefordert. Der Artikel enthielt zwei Unrichtigkeiten, das gesteht Tamedia ein halbes Jahr später ein. Zugleich gibt Chefredaktor Res Strehle Müller die Gelegenheit, sich im doppelseitigen Interview über seinen Fall und über den «sozialen Tod», der ihn getroffen habe, auszulassen.

Dahinter stehen länger dauernde Verhandlungen. Müller hatte offenbar eine Schadenersatzklage angedroht. Das ist ein weitaus gröberes Instrument als die vergleichsweise bescheidene Gegendarstellung. Hier geht es für das eingeklagte Medienunternehmen um eine Verhandlung im ausgeleuchteten öffentlichen Raum, um Geld und um Prestige. Ob die Klage Erfolg gehabt hätte, wird von Fachleuten unterschiedlich beurteilt, aber angesichts eines klaren Fehlers im inkriminierten Artikel war das Risiko für Tamedia doch beträchtlich. Um einen möglichen Imageschaden durch einen verlorenen Prozess abzuwenden, hat das Unternehmen die Flucht nach vorne angetreten. So weit, so PR-mässig nachvollziehbar.

Aber dann gesteht der «Tages-Anzeiger» in der Zeitung nicht nur einen Fehler der Onlineredaktion ein, sondern publiziert in der gleichen Ausgabe ein doppelseitiges Interview mit Alexander Müller. Überschrieben ist das Ganze mit «Der ‹Kristallnacht›-Skandal», und diese Beschreibung lässt vielleicht auch für die BlattmacherInnen offen, was genau denn jetzt der Skandal wäre: die Kristallnacht. Die Berichterstattung von Tamedia. Das umstandslose Fallenlassen von Müller durch seine SVP-Kollegen. Oder doch Müllers Tweets.

Informationspflicht!, mag die Begründung für die grosse Aufmachung wohl lauten. Müller soll die Gelegenheit geboten werden, sich in eigenen Worten zu erklären. Die Interviewfragen sind nicht unkritische Stichwörter. Aber es besteht ein eklatantes Ungleichgewicht zu den Antworten. In denen darf sich Müller, gut vorbereitet, ausführlich über den «extremen Islamismus» ausbreiten bis hin zu den nazistischen Sympathien des Grossmuftis von Jerusalem; er darf mehrfach die älteste Verteidigung wiederholen, seine Zitate seien «aus dem Zusammenhang gerissen»; er darf erläutern, seine Aussage, wegen des «Multikulti in Basel» würden die Frauen bald nur noch in Burkas herumlaufen, damit sie nicht womöglich vergewaltigt würden, und dass es vermutlich den Übergriff auf eine SP-Politikerin brauche, damit das Problem wahrgenommen würde – er darf also behaupten, all das sei als «Joke» gemeint gewesen.

Ein solches Interview zu veröffentlichen, kann man eine journalistische Fehlleistung nennen.

Doch dann wird via andere Medien bekannt, dass das Interview Teil einer umfassenden Vereinbarung zwischen Tamedia und Müller ist und der ganze Wortlaut von Müllers Rechtsvertreterin abgesegnet wurde. Was man im «Tages-Anzeiger» wiederum nicht erfahren hat, in dem das Interview als eine Art moralische Wiedergutmachung für den begangenen Fehler, doch zugleich als genuine journalistische Leistung angeboten wird.

Da bietet also eine Zeitung unter juristischem Druck ein Gegendarstellungsinterview an, unter Missachtung des Transparenzgebots. So etwas ist mehr als eine journalistische Fehlleistung. Es ist ein publizistischer Sündenfall.