RAUCHERZIMMER: Erfolgreiche Entbildung

Nr. 11 –

Ein unvergesslicher Besuch in der «Vergesserei» Winterthur.

Der Mensch soll sich bis ans Lebensende weiterbilden. Dieser Trend kippt allmählich.

Die «Vergesserei», in einem alten Industriegebäude in Winterthur gelegen, ist der Vorreiter des neuen Entbildungstrends.

«Wie auf einer Computerfestplatte können auch im Hirn Daten nicht wirklich gelöscht werden, sondern müssen mit Nullen überschrieben werden», sagt der ehemalige Primarlehrer Walter Knöchi, der die «Vergesserei» 2011 gegründet hat. In einem Raum sitzen fünf Frauen und Männer und hören der ausgebildeten Vergesserin Fritscha Michel konzentriert zu. Sie lernen, Inhalte zu vergessen. Das Wissen muss restlos durchgeackert und geistig überschrieben werden. Die KursteilnehmerInnen im Kurs «Französisch vergessen» haben ein Verlernmittel der Reihe «Forget it» vor sich. Bert Schmohner möchte nicht mehr Französisch können, weil seine Beziehung mit einer Französin in die Brüche gegangen ist. Seine Banknachbarin Susanne R. wiederum will aus purer Neugierde vergessen. Fritscha Michel ruft: «Wir entkonjugieren alle miteinander: ils comprennent, vous comprenez, nous comprenons, il/elle/on comprend, tu comprends, je comprends.» Dann fordert sie Bert auf, das Verb «comprendre» zu konjugieren. Bert sagt voller Glück: «Je ne äh pas.» Er erhält Lob für seine Vergessung, wie der Fachbegriff für überschriebene Begriffe heisst. 

Das Verlernmittel enthält auf den ersten Seiten dichte Wortlisten. Je weiter man blättert, desto grösser werden die Lücken. Die Sprache verschwindet, auch optisch. Auf der letzten Seite steht «oui», das letzte Wort, das vergessen werden muss. Schliesslich gibt es eine Prüfung, bei der acht Seiten mit französischen Wörtern nicht beschrieben werden müssen; die Blätter müssen weiss zurückgegeben werden. Auch gültig ist die Beschriftung mit vielen Nullen. Nervösen Prüflingen helfe das oft, sagt Knöchi. 

Die Stimmung in der «Vergesserei» ist jugendlich locker, trotz der unheimlichen Vorgänge in den Kursräumen. Walter Knöchi räumt ein, dass das Image des Vergessens schlecht sei. «Es gibt Menschen mit Alzheimer, die unter dem Vergessen leiden. Aber viele Menschen leiden umgekehrt unter ihrem Wissen.» Die ehemalige Chemielaborantin Gerda S. hat soeben die Entbildung in Chemie hinter sich. «Ich weiss nicht mal mehr, wie man diesen Blöterli hier in der Cola sagt. Ich fühle mich so richtig schön aufgeräumt und dumm.» Komplexe Module wie «Vergessen in Philosophie» sind erst im Aufbau. Knöchi: «Dafür brauchen wir die besten Philosophen.»

Gibt es Leute, die die Vergessung bereuen? Walter Knöchi wird leiser. «Ein Mann aus Zürich sollte auf Druck seiner neuen, in Madrid lebenden spanischen Freundin sein Schwedisch vergessen, weil seine Exfreundin, eine Schwedin, ihm immer noch nachstellte. Doch der Mann besuchte fälschlicherweise ausgerechnet einen Kurs für Spanischvergessung. Er sagte dem Kursleiter nichts, aus Angst, sich lächerlich zu machen. Doch unsere Methode hatte nach einer Unterrichtsstunde bereits ein Drittel seines Spanischwortschatzes (den er sich bei einem halbjährigen Madridaufenthalt zugelegt hatte) mit Nullen überschrieben. Der Mann getraute sich seine Freundin nicht mehr anzurufen und nahm auch ihre Anrufe nicht mehr entgegen. Vermutlich hat sich diese Beziehung aufgelöst. Das ist zwar tragisch, aber es zeigt die Effektivität eines Kurses in der ‹Vergesserei›.»

Am besten überschreiben Sie das, was Sie hier gerade gelesen haben, sogleich wieder mit Nullen.

Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur.