Gesundheit: «Von Berufung spricht man heute nicht mehr»

Nr. 38 –

Pflegeberufe im Spital im Wandel der vergangenen vier Jahrzehnte: Ein Gespräch mit der Pflegefachfrau Astrid Abea, die ihre Ausbildung zur Krankenschwester noch bei Nonnen gemacht hat – und heute kurz vor der Pensionierung steht.

Astrid Abea muss nicht lange überlegen. Ja, sagt sie, «für mich war es Berufung».

1970, mit knapp zwanzig Jahren, trat die Ostschweizerin in das Theodosianum beim Klusplatz in Zürich ein. Die Schwesternschule wurde von Nonnen geführt, die Pionierarbeit in der Vermittlung der Krankenpflege leisteten. Die heute achtzigjährige Liliane Juchli, bei der auch Abea in den Unterricht ging, hat mit ihren Lehrbüchern und ihrem ganzheitlichen Ansatz die Pflege in ganz Mitteleuropa geprägt.

«Die drei Jahre am Theodosianum waren eine sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Beruf und mit dem Menschsein», erinnert sich Abea. «Einen grossen Stellenwert nahmen die Krankenbeobachtungen ein. Das alles basierte auf der direkten Wahrnehmung: Wie ist der Gesichtsausdruck des Patienten, was erzählt mir seine Körperhaltung? Wir sind in der Patientenbeziehung noch sehr sinnlich ausgebildet worden. Für jedes Praktikum, das in der Regel drei Monate dauerte, mussten wir uns einen Patienten auswählen, von dem wir eine ausführliche Krankengeschichte schrieben.»

In den frühen siebziger Jahren war die Krankenpflege fast nur weiblich besetzt. Erst in den folgenden Jahren wurden immer mehr auch Männer ausgebildet. Die Berufsbezeichnung «Krankenschwester», die im Zuge des neuen Berufsbildungsgesetzes im Jahr 2004 abgeschafft wurde (vgl. «Die Akademisierung» im Anschluss an diesen Text), war aber auch ein Hinweis darauf, wie sehr der Beruf über Jahrhunderte von geistlichen Frauen geprägt gewesen war. Nicht dass Abea selbst Klosterfrau hätte werden wollen – dazu war sie viel zu weltlich disponiert. Die Radikalität aber, mit der sich die kinderlosen Ordensschwestern in den Dienst der Kranken stellten, hat sie geprägt.

Die sogenannte Professionalisierung

Abea ist heute 63-jährig; in gut einem Jahr wird sie pensioniert. Die aktuelle Situation in den Spitälern stimmt sie nachdenklich: «Eine junge Frau, die sich heute für die Krankenpflege berufen fühlt, hat es schwer – das heutige Spitalwesen ist nicht unbedingt für Berufene geschaffen.»

Eine entscheidende Rolle spielte auch der Übergang vom Zwei- auf den Dreischichtenbetrieb im Lauf der frühen achtziger Jahre: «Dadurch ist der persönliche Bezug zum Patienten immer mehr verloren gegangen.» Bei allen technischen Fortschritten und den aktuellen Bemühungen, die Bezugspflege wiederzubeleben: Insgesamt, so Abea, habe sich die Situation für PatientInnen wie für Pflegende eher verschlechtert. Der direkte zwischenmenschliche Kontakt sei in den Hintergrund gedrängt worden. Das spürt Abea auch im Notfallbereich, in dem sie seit einigen Jahren in einer Hundertprozent-anstellung arbeitet: «Heute braucht man – auch aufgrund der vielen Teilzeitstellen – doppelt so viele Angestellte wie in den siebziger Jahren. Und viel mehr Administration. Vor lauter Scheineffizienz kommt man kaum mehr zur wirklichen Arbeit.»

Was läuft falsch in der zeitgenössischen Spitalpraxis? Einen Hinweis gibt der spitalinterne Sprachgebrauch. Etwa das Wort «Patientengut». Das Wort deutet darauf hin, als was PatientInnen in einem zunehmend von betriebswirtschaftlichen Denkweisen geführten Spital behandelt werden: als Finanzquelle. Um schwarze Zahlen schreiben zu können, müssen möglichst viele PatientInnen in möglichst kurzer Zeit durch die Maschinerie gelassen werden. Und mittendrin – die Pflegefachfrau.

«Seit einigen Jahren», so Abea, «steht eine diplomierte Pflegefachfrau auf ihrer Abteilung kaum noch am Patientenbett – und wenn, dann höchstens zum Beispiel für spezielle Verbände. Ansonsten ist sie vor allem administrativ und organisatorisch tätig. Heute wird immer mehr aufgeteilt: Die eine macht Blutdruck und Temperaturen, der andere Verbände und so weiter – so verlierst du den Gesamtblick für den Patienten.»

Tendenz zur Standardisierung

Das Wort «Berufung» klingt in dieser Professionalisierung zwischenmenschlicher Arbeit geradezu absurd. Doch Abea hat die radikale Haltung des Dienens am kranken Menschen, die ihr am Theodosianum vorgelebt wurde, verinnerlicht – und damit auch die ethischen Ansprüche der Nonnen. «In den siebziger Jahren hast du zum Beispiel morgens um sieben angefangen, bist um zwölf bis halb drei in die Mittagspause und hast dann weitergearbeitet, bis die Nachtwache kam. Und wenn eine Patientin Probleme hatte, bist du halt eben erst am Abend um neun oder zehn Uhr nach Hause gegangen. Du hast den Patienten der Nachtwache schlafbereit übergeben – mit allem Drum und Dran. Dadurch, dass du die Abteilung geführt hast und immer da warst, hattest du einen kontinuierlichen Kontakt zu den Patienten. Du warst gleichzeitig zuständig für die Auszubildenden, denen du einzelne Patienten übergeben hast – aber letztlich warst du immer verbindliche Ansprechperson. Die Patienten wussten jederzeit, an wen sie sich wenden konnten – heute wissen sie das kaum mehr.»

Vor allem war alles noch viel unbürokratischer. Ein kurzer Rapport am Mittag und am Abend genügte: «Dadurch, dass du die Patientin so gut kanntest, musstest du nicht weiss Gott was schreiben und lesen.» Inzwischen reihe sich Sitzung an Sitzung, man sei permanent damit beschäftigt, Formulare auszufüllen. Auch die SpezialistInnen vermehren sich: Pflegefachkräfte mit spezifischen Zusatzausbildungen, insbesondere im Managementbereich. «Es gibt heute im Spital ganz viele Häuptlinge», sagt Abea, «aber ganz wenige Indianer.»

Wenn nun Pflegefachleute immer mehr Tätigkeiten übernehmen, die früher ÄrztInnen vorbehalten waren: Ist das nicht doch auch eine Aufwertung des Berufs? Nur scheinbar, ist Abea überzeugt. «Wir hatten schon in den siebziger Jahren volle Abteilungen. Aber die Patienten waren im Allgemeinen genügsamer und auch dankbarer. Der Patient hat uns Krankenschwestern enorm geschätzt. Heute gibt es immer mehr Patienten, die – kaum im Spital angekommen – persönliche Forderungen stellen.»

Dass sich auch das Verhalten der PatientInnen verändert hat, erfährt Abea gerade auf dem Notfall. «Heute ist ein grosser Prozentsatz der sogenannten Notfälle Bagatellen: Grippe, Halsweh, Schnupfen, Nasenbluten, Bauchweh, Kopfweh. Solche Leute hätten wir vor dreissig Jahre freundlich nach Hause geschickt. Heute ist das kaum möglich. Die Spitäler scheinen sich noch nicht wirklich gegen diesen Konsumismus zu wehren.»

Dabei spielen nicht nur juristische, sondern auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle. Das Hauptproblem wurzelt also nicht in der Einführung des Dreischichtenbetriebs, sondern in den rasant steigenden Patientenzahlen und in der neu geregelten Abrechnungsweise: Seit dem 1. Januar 2012 werden in der Schweiz stationäre Spitalleistungen nach DRG-Fallpauschalen, «diagnosebezogenen Fallgruppen», abgerechnet. Zuvor hat man Spitalleistungen im stationären Bereich je nach Kanton unterschiedlich berechnet. Das neue gesamtschweizerische System will Transparenz und Vergleichbarkeit erhöhen, auf dass der Wettbewerb unter den Spitälern erhöht und ihre Leistungen effizienter werden. Zur Folge hat das aber auch, dass die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der PatientInnen im Spital verkürzt wird – und die Pflegefachkräfte noch weniger Zeit für die einzelne Patientin haben.

Was nun, wenn sich eine junge Frau unter solchen Umständen berufen fühlen sollte, den Dienst am kranken Mensch anzutreten? Kann sie sich diese Berufung überhaupt noch leisten? Eher nicht, glaubt Abea. «Natürlich gibt es noch immer die Berufenen. Aber viele von ihnen werden sehr bald desillusioniert. Es ist eben wirklich eine Maschinerie geworden: So viel muss in kürzester Zeit ausgeführt werden, dass du nicht mehr wirklich auf den Patienten eingehen kannst. Du kannst nur noch funktionieren und schauen, dass die vorgegebenen Abläufe stimmen.»

Das Theodosianum, das die letzten vierzig Jahre im Spital Limmattal in Schlieren weiterwirkte, ist vor sechs Jahren geschlossen worden.

Industrialisierung der Pflege

Markt- und Wettbewerbsmechanismen im Gesundheitswesen haben inzwischen derart an Bedeutung gewonnen, dass man von einer Industrialisierung der Spitalarbeit reden kann: Die Bezugspflege hat sich verschoben in Richtung einer Funktionspflege. «Der Pflegeberuf ist zum Job geworden», sagt Astrid Abea. «Ob bei Manor oder im Spital zu arbeiten, macht für viele Junge kaum mehr einen Unterschied.» Was ja auch verständlich sei – denn natürlich fahre man heute gut, wenn man einen Pflegeberuf wählt, weil man in diesem Bereich gute Aussichten auf einen Job hat.

Als sich Abea in den siebziger Jahren im Kantonsspital St. Gallen zur Anästhesieschwester weiterbildete, waren Zwölfstundentage üblich. «Wir hatten schon auch Zeit und gingen in den Ausgang. Doch immer war klar: Ich habe diesen Beruf, und dieser Beruf verlangt viel von mir», sagt sie. «Überstunden waren selbstverständlich.» Sie habe in dieser Zeit viele berufene Krankenschwestern kennengelernt, sozial engagierte Frauen auch ausserhalb ihrer Berufstätigkeit. «Wenn wir zum Beispiel einen sterbenden Menschen auf der Station hatten, stellten wir seinen Verwandten, ohne zu zögern, unser Schwesternzimmer zur Verfügung.»

Anfang der achtziger Jahre war Astrid Abea zum ersten Mal schwanger. Damals gab es noch keinen gesetzlich geregelten Mutterschaftsurlaub – nach der Geburt erhielt sie gerade mal drei Wochen Urlaub. «Heute arbeiten die meisten Mütter nach ihrem Mutterschaftsurlaub nur noch Teilzeit – durchschnittlich etwa vierzig Prozent.» Natürlich begrüsst sie die verbesserte Stellung der Frauen. Zugleich stellt sie fest, dass allzu viele niedrige Arbeitspensen die persönliche Betreuung der PatientInnen zusätzlich erschweren.

Astrid Abea macht sich bereit für den Nachtdienst. Ob sie nicht auch schon versucht habe, sich gegen diese Zustände zu wehren? «Natürlich unternahmen wir immer wieder Versuche, auch politisch», sagt sie. Wobei es ihr persönlich viel mehr um den Widerstand gegen zu viel Administration und Spezialistentum ging als um den Kampf für bessere Löhne. «Aber irgendwann hast du dazu die Energie nicht mehr, weil du dich so aufreibst und aufregst in diesem System.»

Am Schluss sagt Astrid Abea: «Manchmal kommt es einem vor, als wäre der Patient zu einer Ware geworden. Und das Spital zu einem Kiosk.»

Die Akademisierung

Am 1. Januar 2004 trat das neue Berufsbildungsgesetz in Kraft. Seither regelt der Bund die Berufe im Gesundheitswesen – mit dem Ziel, den «Sonderfall Gesundheitsberufe» in die Hochschulbildungslandschaft einzugliedern. Das hat die Aus- und Weiterbildung im Pflegebereich gründlich umgekrempelt.

Mit einer dreijährigen Lehre erreicht man heute den Status Fachmann Gesundheit. Wer diplomierte Pflegefachfrau werden will, muss eine höhere Fachschule oder Fachhochschule besuchen. Das ist mit abgeschlossener Pflegeausbildung oder Berufsmatur möglich, verlangt aber je nachdem noch weitere Qualifikationen. Für einen Bachelor of Science in Pflege gilt es, ein dreijähriges Vollzeitstudium zu absolvieren. Gute Englischkenntnisse auf dem Niveau eines First Certificate werden vorausgesetzt. Auch ein Master of Science in Pflege ist im Anschluss möglich. Am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel kann darüber hinaus sogar eine akademische Laufbahn anvisiert werden: Das Doktoratsstudium «bereitet auf anspruchsvolle Aufgaben in Forschung, Lehre und Klinik vor».

Die Fachhochschulen bieten auch diverse Weiterbildungs- und Spezialisierungsangebote an – in Bereichen wie onkologische oder gerontologische Pflege, in der ambulanten, der Akut- oder der Langzeitversorgung.

Franziska Meister