Ikarus Records: Die denkbar mögliche Melancholie

Nr. 15 –

Alles selbstbestimmt machen und keinen Ruhm anstreben: Das Rocklabel Ikarus Records, das sein zehnjähriges Bestehen feiert, ist eine Perle in der Zürcher Musikszene. Ein Treffen mit den Betreibern.

Do it yourself: Das Team von Ikarus Records, in der Mitte Manu Clausen und Patrik Küng. Foto: Hannah Lora Freeman

Falls jede Stadt ihren spezifischen Klang hat, wäre es in Zürich wohl der einer gedämpften Geschäftigkeit: Leise tippen die Finger der Pendlerinnen über die Smartphones, sanft schlagen die Füsse der Jogger auf dem Asphalt auf. Selbst die Baustellen machen kaum einen Lärm. Und doch wachsen die Luxuslofts in die Höhe und die Bahnhöfe in die Tiefe, fast so virtuell, wie sie am Schluss aussehen. Nur manchmal wird die Tüchtigkeit unterbrochen von einer Lautsprecherdurchsage, und die Verkehrsbetriebe teilen mit, wo sich die nächste Kollision ereignet hat. Ob am Stauffacher oder am Bellevue – die Mitteilungen haben vor allem den Zweck, die entsprechenden Umleitungen auszurufen: Zürich bleibt im Fluss wie die Limmat und das Geld. Melancholie ausgeschlossen.

Doch Zürich klingt auch anders, weit, sehnsüchtig und atmosphärisch. Seit zehn Jahren nunmehr ist dafür ein Label verantwortlich, das schon im Namen das Abheben und Abstürzen verfolgt: Ikarus Records.

«Mit Zürich verbinde ich Geld, eine polierte Oberfläche und ein grosses Maul», sagt Patrik Küng an einem Frühlingsnachmittag im Garten des «Piccolo Giardino» hinter der Langstrasse. «Wir sind Agglokinder», ergänzt Kollege Manu Clausen. Küng zog vor Jahren aus Frauenfeld her, Clausen aus Bassersdorf. Zur laufenden politischen Diskussion über die Gräben zwischen Stadt und Land wäre damit ein Beweis erbracht, dass die Stadt sich noch immer aus der Agglo erfindet: Kreativität als Folge der (Binnen-)Migration.

Viele Stimmen, wenig Gesang

Ziel der Labelgründung von Ikarus Records war es, selbst Musik herauszugeben. Nicht die Not, dass sie bei keinem Label aufgenommen wurden, habe sie angetrieben, sondern die Absicht, selbst Musik herauszugeben, in der Punklogik des «Do it yourself», erzählen Clausen und Küng. Anfänglich zählten zum Label drei Bands: Kid Ikarus, Duara und The Pilot. Organisiert war man basisdemokratisch, alle MusikerInnen, die zu den Sitzungen erschienen, waren stimmberechtigt. Für die Aufnahme von neuen Bands war früher Einstimmigkeit, heute eine Dreiviertelmehrheit nötig. «Das war manchmal ganz schön streng», erinnert sich Clausen. Und doch wuchs das Label stetig auf aktuell elf Bands. Einige sind beim Label aktiv, andere nur assoziiert.

Clausen und Küng spielen bei Kid Ikarus und DAVV, Küng ausserdem bei Perfect Disaster Boy. Dass das Label fast gleich heisse wie ihre Band Kid Ikarus, sei ihnen von den anderen aufgedrängt worden. «Wir sind nicht die Mutterband», hält Clausen fest. Auf der Compilation, die zum zehnjährigen Bestehen diesen Frühling erscheint, sind dennoch Gemeinsamkeiten zwischen den Bands zu entdecken: die Orientierung am Postrock, der Anfang des letzten Jahrzehnts prägend war; als Vorbilder fallen die Namen von Mogwai aus Schottland oder von Honey for Petzi aus der Romandie.

Noch etwas fällt auf: Bis auf wenige Ausnahmen verzichten die Ikarus-Bands auf Gesang. Der Gesang wird bestenfalls als weiteres Instrument eingesetzt. Das Labelprinzip der Einstimmigkeit spiegelt sich so ein Stück weit in den Bands selbst, die ohne Hierarchie auszukommen versuchen.

Kein Wettbewerb

Ziel des Labels ist es, den Bands eine Plattform für ihre Alben und Konzerte zu bieten. Wobei man zurückhaltend mit der Selbstvermarktung bleiben will, im Vordergrund soll die Lust an der Musik stehen. Unter den Bands herrscht denn auch kein Wettbewerb. «Bis heute gibt es keine Buchhaltung über die verkauften Platten der einzelnen Bands», sagt Clausen. «Weil nie besonders viel Geld im Spiel war, gab es wohl auch nie böses Blut», wirft Küng ein. Wenn eine Band das Label wieder verliess, mit Disco Doom die wohl bekannteste, dann nicht im Streit, sondern weil sie ihren eigenen Weg gehen wollte. Öffentliche Unterstützung hat das Label nie erhalten. «Die Stadt unterstützt lieber einzelne Künstler als Kollektive. Die denken wohl, wir würden uns mit den Subventionen alle nur neue Velos kaufen», sagt Clausen und lacht.

Neben der Compilation gibt es zum Jubiläum eine Konzertreihe, der Auftakt ist diesen Samstag im «Provitreff». Im April wird ausserdem ein neues Album von Yakari mit dem Titel «Local Music» erscheinen. Die Jüngsten auf dem Label haben sich mit ihrem Indierock fern jeder Klischees einen Namen gemacht. Später im Jahr wird Perfect Disaster Boy sein erstes Album veröffentlichen, der Lo-Fi-Song «Steppenbirds», der sich auf dem Sampler findet, klingt vielversprechend. Auch von Eno erscheint im Herbst ein neues Album. Das Duo pendelt zwischen Postrock und Ambient.

Ikarus Records macht also weiter. «Eine Verjüngung wäre vielleicht nicht schlecht», meinen Clausen und Küng, die über dreissig Jahre alt sind und ihren Postrock als «nicht mehr besonders innovativ» betrachten. Vielleicht sind es gerade diese Gelassenheit und Bescheidenheit, die in der geschäftigen Stadt die Melancholie aufbrechen lassen.

Ikarus Records 10-Years-Celebration-Show, 
in Zürich: Provitreff, 12. April 2012, mit Duara, Yuri Member, Borderline Symphony, Kid Ikarus. Weitere Konzerte, Infos und Sampler auf 
www.ikarusrecords.ch.