Theorie der Revolution: Der Preis der Gewalt

Nr. 26 –

Der Zweck verseucht die Mittel: Eine Ordnung, die auf einen Akt der Gewalt zurückgeht, wird diesen Kern der Willkür nie mehr los. Was heisst das für revolutionäre Gewalt als Mittel zur Befreiung?

Auf den ersten Blick ist die Gewaltfrage von links leicht zu beantworten. Jeder, der schon einmal als Mieter in Zahlungsrückstand geraten ist, jede, die eine Demonstration organisiert hat, weiss, dass auch der liberale Staat zum Schutz sozialer Ungleichheitsverhältnisse auf Gewalt zurückgreift. Warum sollten sich also ausgerechnet die Unterlegenen, Subalternen auf Gewaltfreiheit festlegen? Politische Gewalt mag nicht immer schlau sein, aber es fehlt ihr sicher nicht an Legitimität.

Von Walter Benjamin gibt es jedoch einen Einwand, den man kennen sollte, wenn man sich mit der Frage beschäftigt. Der Essay «Zur Kritik der Gewalt» wurde 1921 veröffentlicht, zu einer Zeit, als Benjamin eher linkszionistisch als marxistisch beeinflusst war, und gehört zu den wenigen explizit politischen Texten des Kulturtheoretikers. Benjamin erörtert hier, in welchem Verhältnis Gewalt, Recht und Gerechtigkeit zueinander stehen. Dafür skizziert er zunächst, was die beiden grossen Schulen der Rechtstheorie dazu zu sagen haben: Für die Naturrechtsanhänger, die von unveräusserlichen Grundrechten des Menschen ausgehen, stellt die Anwendung der Gewalt zu gerechten Zwecken kein Problem dar. Für sie sei, so Benjamin, Gewalt «Rohstoff der Geschichte» – ein unvermeidbares Mittel zur Durchsetzung von Gerechtigkeit.

Terror gegen Terror

Das Problem bei dieser Argumentation liegt auf der Hand: Der Diskurs von revolutionären Linken ist kaum von dem autoritärer Rechter zu unterscheiden. Auch die Bushs, Blairs und Cheneys rechtfertigten ihre Kriegseinsätze mit dem Hinweis, dass im Kampf gegen den Terror alle Mittel, selbst offen terroristische wie Entführung und Folter, unvermeidbar seien.

Demgegenüber hat der Rechtspositivismus als zweite grosse Theorietradition immer betont, dass ein so unscharfer Begriff wie Gerechtigkeit nicht als Grundlage von Rechtsordnungen dienen könne. Zwar ist auch der Rechtspositivismus für Gerechtigkeitsvorstellungen keineswegs blind, aber im engeren Sinn beschäftigt ihn die Frage, ob etwas legal konstituiert ist. Entscheidend ist nicht, ob Gewalt einem «gerechten Zweck» dient, sondern ob sie innerhalb des Gesetzes ausgeübt wird.

Ein Beispiel: Wenn es, wie im Naturrecht, nur um den «gerechten Zweck» ginge, dann wäre es belanglos, ob ein Mörder durch die Staatsmacht oder einen Lynchmob bestraft wird. Beides würde dem «gerechten Zweck» dienen. Der Rechtspositivismus geht hier aber vom Gegenteil aus: Entscheidend ist, ob die Personen, die strafen, dazu auch berechtigt sind. Dabei kann das Ergebnis durchaus identisch sein: Auch manche staatliche Rechtsordnung richtet mit dem Tod. Doch die Tötung durch den Justizangestellten ist – anders als die durch den Lynchmob – legal konstituiert.

Das falsche Dogma

Benjamin wirft den Rechtstheorien nun allerdings vor, ein Grunddogma zu teilen: Beide seien der Ansicht, dass gerechte Zwecke durch berechtigte Mittel erreicht und umgekehrt berechtigte Mittel für gerechte Zwecke eingesetzt werden können. Was aber, wenn das falsch ist, wenn das Mittel der Gewalt und der Zweck der Gerechtigkeit in unvereinbarem Widerspruch zueinander stehen?

Benjamin verweist hier auf den bemerkenswerten Umstand, dass für den liberalen Staat nicht die Gewalt als solche ein Problem darstellt, sondern die Ausübung durch Nichtbefugte. Um dies genauer zu verstehen, erörtert Benjamin eine Gewaltform, die der Staat gerade noch toleriert: den Streik. Nun lässt sich einwenden, dass der Streik weniger ein Gewaltmittel als eine Form der Verweigerung ist. Aber immerhin kann man festhalten, dass der Streik ein durchaus kämpferisches Mittel ist, um die eigenen Interessen gegen Widerstand durchzusetzen. Seltsamerweise, so Benjamin weiter, ist diese Kampfform legal, wenn sie die Unternehmer zu etwas Konkretem, zum Beispiel Lohnerhöhungen, zwingt, hingegen illegal, wenn sie droht, die Regierung zu stürzen. An diesem Beispiel zeige sich, dass nicht das Mittel das Problem darstellt, sondern die damit verfolgten Intentionen.

In einem weiteren Schritt, nämlich anhand des internationalen Staatenrechts – dessen Ursprünge ja auch auf die Frage zurückgehen, wie Gewaltergebnisse – der Ausgang von Kriegen – als «Friedenszustand» zur Rechtsordnung werden können – entwickelt Benjamin seine Kernthese: Gewalt und Recht sind untrennbar miteinander verknüpft, wobei die Gewalt zwei grundlegende Funktionen ausübt. Sie wirkt «rechtsetzend» oder «rechtserhaltend». Die rechtserhaltende Gewalt, wie sie in der Polizei, dem Justizwesen oder – auf extremste Weise – in der Todesstrafe zum Ausdruck kommt, erfüllt dabei nicht die Aufgabe, die Bürger von konkreten Verbrechen abzuhalten. Sie ist vielmehr eine Herrschaftsdemonstration, durch die wortlos an Ursprung und Essenz des Rechts erinnert wird: an die durch Gewalt gesetzte Macht.

Bemerkenswerterweise hat Carl Schmitt etwa zur gleichen Zeit eine fast identische These entwickelt – unter entgegengesetzten Vorzeichen. Der autoritäre Staatstheoretiker, der in den 1930er Jahren zum Kronjuristen der Nationalsozialisten aufsteigen sollte, leitet in seinen Schriften «Die Diktatur» (1921) und «Politische Theologie» (1922) das Recht von der Gewalt ab. Dort, wo es keine Ordnung gibt, so Schmitts Credo, herrsche auch kein Recht; und Ordnung wiederum werde gewalttätig geschaffen. Das ist der Kern des berühmten schmittschen Dezisionismus: Im Inneren des Rechts befindet sich die erfolgreiche Entscheidung: die Durchsetzung einer Ordnung, die in Krisensituationen auch mit aller Gewalt verteidigt werden muss.

Während es jedoch Schmitt darum geht, auf diese Weise die Rechtmässigkeit von Diktatur und Ausnahmezustand zu beweisen, stellt dieselbe Verbindung von Recht und Gewalt für Benjamin den Abgrund dar. Im Inneren des liberalen Rechtsstaats befindet sich dunkle Leere. Denn Gewalt ist das eigentliche Gravitationszentrum des Rechts.

Das Dramatische an Benjamins Überlegungen ist nun, dass dieser Zusammenhang auch für revolutionäre Gewalt gilt. Auch sie etabliert einen Ordnungszustand, der das Kainsmal der Willkür nicht loswird. Daraus ergibt sich für ihn auch eine Pendelbewegung zwischen den Funktionen der Gewalt. Da die rechtserhaltende Gewalt ihren Unrechtscharakter nicht abschütteln kann, provoziert sie aufständische Reaktionen, die neues Recht zu setzen versuchen. Das aber heisst: Die revolutionäre Gewalt kann den Zirkel von Herrschaft und Aufstand nicht verlassen.

Wenn die Ordnung verfault

Auch wenn Benjamin an dieser Stelle die junge Russische Revolution unerwähnt lässt, lesen sich diese Absätze doch wie eine Vorhersage der staatssozialistischen Geschichte. Denn die Entwicklung der Revolutionen lässt sich durchaus als Pendelbewegung interpretieren: Die rechtsetzende, letztlich willkürliche Revolutionsgewalt liess die neue Gerechtigkeitsordnung sofort von innen verfaulen. Um die neue Ordnung aufrechtzuerhalten, musste die «rechtserhaltende» Gewalt zum stalinistischen Terror ausgedehnt werden. Das provozierte eine Gegenbewegung, die eine neue, alternative Rechtsetzung forderte.

Mit dem unscheinbaren Essay von 36 Seiten wirft Benjamin letztlich also nichts weniger auf als die Frage, wie eigentlich Revolutionen aussehen. Wenn Benjamin mit seinem Verdacht recht hat, dann ist der Gewaltakt einer Revolution offensichtlich gar kein Mittel zur Befreiung. Was aber bleibt dann noch?

Benjamin wendet sich an dieser Stelle dem «proletarischen Generalstreik» zu und verweist auf Georges Sorel, der Anfang des 20. Jahrhunderts (also vor seiner Wende zum Faschismus) der führende Theoretiker des revolutionären Syndikalismus war. In Verteidigung der direkten Aktion der Arbeiterklasse unterscheidet Sorel zwischen zwei Formen des Generalstreiks: Der politische Streik suche die Durchsetzung einer neuen Ordnung, in der «der Staat nichts von seiner Kraft verliert, die Macht von Privilegierten auf Privilegierte übergeht, wie die Masse der Produzenten ihre Herren wechselt». Der «proletarische» Streik hingegen strebe keine neue Rechtsordnung an, sondern sei – so Benjamin – «Mittel ohne Zweck».

An dieser Stelle begibt sich der Essay dann endgültig auf theologisches Terrain. Benjamin unterscheidet zwischen der «mythischen» Gewalt der griechischen Götterwelt und der «gerechten Gewalt» des judaischen Gotts. Diese Unterscheidung mag zunächst sehr gesetzt wirken, doch verstecken sich hinter den Gottesbildern auch unterschiedliche Vorstellungen menschlichen Daseins. In der griechischen Mythologie hat die Gewalt der Götter vor allem die Funktion, deren Macht zu demonstrieren und damit Recht, sprich ihre Herrschaft zu setzen. So kreuzt Odysseus zehn Jahre durchs Mittelmeer, weil Poseidon ihm zürnt. Und auch Ödipus entkommt seinem Orakelspruch nicht. Die Menschen sind Spielball der herrschenden Ordnung. Der judaische Gott hingegen ist, zumindest in Teilen der Thora, auch ein Gott der Veränderbarkeit: Die Juden fliehen aus der Knechtschaft in Ägypten und gründen auf dem Berg Sinai eine Gemeinschaft der Freien und Gleichen.

Die theologische Volte

Benjamin behauptet nun, die bürgerliche Rechtsordnung folge dem griechisch-mythischen Prinzip, die Gerechtigkeit aber sei dem judaischen zugeordnet: «Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt unmittelbarer Manifestation der Gewalt. Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung.»

Mit dieser theologischen Volte distanziert sich Benjamin auch vom Pazifismus. Es ist nicht nur so, dass das Mittel der Gewalt die Ziele kontaminiert, wie Pazifisten wohl behaupten würden. Bei Benjamin besteht der Zusammenhang eher umgekehrt: Die Gewalt wird durch den Zweck kontaminiert. Eine Handlung wird erst dadurch zum Macht- und Gewaltakt, dass sie etwas durchsetzen soll. Die «göttliche Gewalt» hingegen ist eine, die keinen Interessen dient, gar keine Rechtsordnung errichten will.

Als politische These ist das zugegebenermassen zweifelhaft, denn – wie bereits erwähnt – wie definieren wir Gerechtigkeit? Und wie soll verhindert werden, dass interessierte Gruppen neue Machtordnungen etablieren?

Doch Benjamins Essay ist kein politischer Strategietext; er formuliert ein Problem: Er zeigt auf, wie das liberale Recht an die Willkürherrschaft der Gewalt gefesselt bleibt, und legt so nahe, dass auch revolutionäre Gewalt nur mythische Formen des Rechts hervorbringen kann. Die soziale Revolution als Befreiung, als «Tigersprung unter dem freien Himmel der Geschichte» (Benjamin), müsste auf etwas anderem fussen: auf der Verständigung von Menschen, auf neuen, radikalen Formen der Demokratie.

Hannah Arendt, die zu den wenigen gehörte, die Benjamins Essay vor der Neuveröffentlichung Mitte der 1960er Jahre kannten, griff diese Überlegung auf, als sie in «On Revolution» (1963) die Amerikanische Revolution mit ihren räteähnlichen Strukturen gegen das französische Jakobinertum verteidigte: konstituierender Prozess statt Grande Terreur. Zwar idealisiert Arendt in ihrem Buch die USA, indem sie die systematische Auslöschung der Native Americans, Rassismus, Sklaverei und bürgerliche Herrschaft als Teil der Staatsgründung ausblendet. Aber sie bleibt Benjamins Einwand doch in einer Hinsicht treu: Es gilt, den geschlossenen Zirkel von Gewalt, Rechtsetzung und Umsturz zu unterbrechen.

Emanzipation trotz der Gewalt

Benjamins Essay führt also zu der ungeklärten Frage nach dem konstituierenden Prozess: Wie entsteht unter herrschenden Bedingungen eine alternative, radikal demokratische Macht, die den Sprung aus dem Kontinuum der Herrschaftsgeschichte ermöglicht? Subversive, politische Gewalt mag legitim, manchmal auch unvermeidbar sein: Ohne die Partisanen in Süd- und Osteuropa wäre der Nationalsozialismus nicht besiegt worden. Und hätten die deutschen Arbeiterparteien 1933 den bewaffneten Kampf aufgenommen, dann hätten die Kräfte Nazideutschlands für Auschwitz und die Besetzung Europas vermutlich nicht mehr gereicht.

Es wäre idiotisch zu leugnen, dass politische Gewalt eine unverzichtbare Form des Widerstands sein kann. Aber als Mittel, um Gerechtigkeit herzustellen, taugt sie offensichtlich nicht. Wenn es in bewaffneten Aufständen soziale Emanzipation gegeben hat, dann nicht wegen, sondern trotz der Gewalt.

Dieser Aufsatz ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines im Juni 2014 auf der Konferenz «Marx is Muss» in Berlin gehaltenen Vortrags.