Das Fotokollektiv Nar: «Grüssen Sie die Türkei von einer armenischen Frau»

Nr. 36 –

Mit ihren Bildern von den Protesten rund um den Gezipark fand die türkische Agentur Nar Photo weltweit Beachtung. Jetzt hat es das linke Kollektiv ins Museum geschafft.

Es ist ein Bild mit einer unglaublichen Strahlkraft: Die Frau sitzt auf einem Hocker, die faltige Hand hält ein Foto ihrer längst vergangenen Jugend fest, nur wenig Licht gleitet durchs Fenster in das trostlose Wohnzimmer. Hinter der anderen Hand hat die Hundertjährige ihr Gesicht verborgen – die Erinnerungen an den Völkermord sind auch Jahrzehnte später noch zu überwältigend. Doch selbst das Wenige, was von der Mimik der Armenierin zu sehen ist, reicht aus, um uns diesen Moment der Leere, des Versunkenseins in den Schmerz spüren zu lassen.

Es gibt Fotografien, die man so schnell nicht mehr vergessen kann. Sie graben sich tief in das Bewusstsein ein, und dieses Werk mit dem Titel «Remembering» ist eines davon. Entstanden ist es 2011 in der türkisch-armenischen Grenzstadt Kars im ostanatolischen Hochland. Die Frau wollte erst überhaupt nicht, dass sie der Fotograf Erhan Arik porträtierte. Der Dreissigjährige ist «türkischer Staatsbürger», wie er sich ein wenig verschämt bezeichnet. Sie hat den türkischen Genozid an den Armeniern überlebt. Bei Massakern und Todesmärschen starben zwischen 1915 und 1917 bis zu eineinhalb Millionen ArmenierInnen im Osmanischen Reich. Bis heute leugnet die türkische Regierung, dass es ein Völkermord war.

«Es war eine seltsame Situation», sagt Arik, der als Fotograf gegen das Vergessen des Ungeheuerlichen arbeitet. Er musste erst das Vertrauen der Frau gewinnen. Auf den Auslöser drückte er erst, als diese ihn nicht mehr als Feind wahrnahm.

Abseits des Üblichen

Arik ist Mitglied der Istanbuler Bildagentur Nar Photo. Das Konzept des linken Kollektivs ist einzigartig in der Türkei. Weil fünf befreundete FotografInnen keine Lust mehr auf den zermürbenden Konkurrenzkampf auf dem schwierigen Arbeitsmarkt hatten, gründeten sie 2004 die unabhängige Fotoagentur Nar, was übersetzt Granatapfel heisst. «Wir haben den Namen gewählt, weil wir wie die Frucht viele Einzelne sind, die zusammen ein Ganzes ergeben», sagt Mitbegründerin Serra Akcan. Sie sitzt im Istanbuler Büro der Agentur, wenige Minuten vom Taksimplatz und vom Gezipark entfernt. Die Möbel sind zerschlissen, eine Katze spaziert durch die unordentlichen Räume, die Wände sind voller Bilder und Plakate. «Gemeinsam können wir leichter überleben», sagt die Vierzigjährige.

Mit seinen Bildern zeigt das Kollektiv, wie sehr es sich lohnt, abseits des Üblichen hinzuschauen. Thematisch sind sie nicht festgelegt, aber soziale Themen stehen im Mittelpunkt ihrer Arbeiten. Im Portfolio der Agentur sind abseitige Geschichten, etwa über wartende Froschfänger in Diyarbakir, ebenso zu finden wie gesellschaftspolitische Reportagen über chinesische Minenarbeiter im westtürkischen Zonguldak oder Nachrichtenbilder von der Katastrophe in Roboski. Im Dorf an der türkisch-irakischen Grenze wurden 2011 bei einer Bombardierung durch die türkische Luftwaffe 35 ZivilistInnen ermordet – ein Massaker, das bis heute nicht aufgeklärt und international unbeachtet geblieben ist.

Weltweite Beachtung bekam das Kollektiv im Sommer 2013 während der Proteste rund um den Gezipark. Weil die meisten türkischen Medien kaum oder gar nicht darüber berichteten, dokumentierten die Nar-Leute ausführlich die Demonstrationen gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdogan. «Eigentlich haben wir wie immer gearbeitet, aber wegen der Versäumnisse unserer heimischen Medien war das internationale Interesse an uns plötzlich sehr viel höher», sagt Akcan.

Nar versteht sich nicht als klassische Bildagentur. Das Kollektiv will sich nicht dem kommerziellen Druck beugen, will auch kein blosser Dienstleister für Medien sein, mit Millionen Bildschnipseln für alles Mögliche. Durch die individuelle Handschrift jedes Mitglieds entsteht ein buntes Bildvokabular. Für Nar ist Fotografie immer auch ein Mittel in einem Kampf für Gerechtigkeit: Was kann ich mit meinen Bildern erreichen? Was will ich zeigen, was will ich diskreditieren? Zwar verkauft die Agentur ihre Bilder auch an Zeitungen, Verlage und Magazine. «Aber», sagt Akcan, «für uns ist es wichtiger, ganze Geschichten zu erzählen und damit ein Archiv aufzubauen.»

Grossformatige Auszüge aus dem Archiv der Agentur haben es nun sogar in das renommierte «Istanbul Modern» geschafft. Das Museum für Gegenwartskunst zeigt bis in den November hinein eine Retrospektive mit 75 Arbeiten des Kollektivs. Die Ausstellung ist die bislang umfassendste Schau von Nar Photo, das Resultat beeindruckt. Unter dem Titel «On the Road» ist ein atmosphärischer Erfahrungskorridor durch die Türkei der letzten zehn Jahre entstanden.

Die FotografInnen verzichten auf aufwendige Inszenierungen, setzen stattdessen auf ergreifende Momentaufnahmen – wie eben Erhan Ariks «Remembering», das auch in der Ausstellung zu sehen ist, oder das Bild einer alten Frau in einem Gewächshaus. Es ist ein schlichtes Motiv, aber das Meer an Farben, mit den leuchtenden Tomaten an begrünten Rankstäben, macht es zu einer sinnlichen Erfahrung. Vielleicht sind solche Arbeiten nur möglich, wenn man sich freimachen kann von lästigen Auftraggebern, die einem ihren kommerziellen Stil aufdrücken wollen.

Hochzeitsfotos zum Leben

Doch die Ungebundenheit hat auch ihre Nachteile: Kein Mitglied des Kollektivs kann ausschliesslich von seiner Leidenschaft leben. Alle haben Nebenjobs, müssen ihren Lebensunterhalt mit Werbefotografie, Hochzeitsfotos und Workshops finanzieren. Schon zweimal hätten sie ans Aufgeben gedacht, sagt Akcan: «Wir sind halt nicht mehr die jungen Enthusiasten, die wir einst waren.»

Immer noch fehlt es den freien FotografInnen auch an Anerkennung in einer Branche, in der um jeden Cent gefeilscht wird. Die Situation für freie Fotografen und Journalistinnen ist in der Türkei noch prekärer als in der Schweiz. Aber trotz aller Widrigkeiten hat das Kollektiv doch immer weitergemacht, «denn wir teilen auch unser Leben hier», so Akcan. «Fotografie ist eine starke Sprache, die wir gemeinsam sprechen wollen.» Mittlerweile arbeiten siebzehn FotografInnen bei Nar, davon sind sechs im südostanatolischen Diyarbakir stationiert, ein Mitglied lebt in Berlin.

Die Überlebende, die Erhan Arik porträtierte, schilderte ihm in einem Videointerview die Gräueltaten, die sie während des Genozids an ihrem Volk miterleben musste: «Ich habe unglaubliche Sachen gesehen. So viele Tote auf den Strassen, manche waren zuvor vergewaltigt worden», sagt sie im Video mit zittriger Stimme. Sie selber überlebte in einem Versteck. «Grüssen Sie die Türken von einer armenischen Frau», sagt sie zum Abschied zu Arik.

Der türkische Präsident Erdogan befand kürzlich, «Armenier» sei ein Schimpfwort.

Die Ausstellung «On the Road» wird noch bis
zum 9. November 2014 im Museum für Gegenwartskunst in Istanbul gezeigt. www.istanbulmodern.org

Das Video zum Werk «Remembering» gibts bei www.vimeo.com/16027280 .